David Grossman: Was Nina wusste
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Hanser Verlag, München 2020
350 Seiten, 25 Euro
Befreiender Psychotrip in die Vergangenheit
05:41 Minuten
David Grossman spannt in "Was Nina wusste" einen Bogen vom gegenwärtigen Israel bis zur blutigen europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In dem Roman wird eine große Liebe und die Tragödie eines verzweifelten Kindes erzählt.
Es sind Frauen, die diese Geschichte tragen. Sie sprechen von sich, stellen bohrende Fragen, verletzen. Sind verletzt. Sie sind stark, kompromisslos und kämpfen um Liebe. Wäre da nicht dieses verdammte 20. Jahrhundert, würde alles vielleicht wieder ins Lot kommen.
Aber es gibt Nationalismus, den Weltkrieg, die Shoah, Kommunismus, den Gulag. Hoffnung und Enttäuschung, Verrat und Treue, Opfer und Täter. Gewalt, unter der Menschen zu Staub werden – oder zu Stein.
David Grossmans neuer Roman spannt einen weiten Bogen. Er führt fort vom Israel unserer Tage nach Europa und tief in die Psyche seiner Protagonistinnen. Karstige Landschaft mit drei Frauen könnte sein Titel sein.
Die Tochter reist vom Polarkreis an
Vera heißt die älteste. Sie feiert, beeindruckend vital, im Kibbuz ihren 90. Geburtstag. Tags darauf geht es mit Enkelin Gili, Schwiegersohn Rafi und der überraschend vom Polarkreis angereisten Tochter Nina nach Kroatien. Vera stammt aus Kroatien und auch Nina ist noch dort geboren.
In den 1950er-Jahren sind Mutter und Tochter nach Israel ausgewandert. Vera hat sich im Kibbuz neu verwurzelt, Nina findet zeitlebens keinen Halt. Und obwohl Rafi sie ehrlich liebt, lässt sie ihn und die gemeinsame Tochter Gili zurück, getrieben von den Dämonen ihrer Kindheit.
David Grossman erzählt, wie sich Erfahrungen transgenerationell weitervererben und wie Ungesagtes die Beziehungen in einer Familie vergiften kann. Die Reise nach Kroatien ist gewissermaßen der befreiende Psychotrip in die Vergangenheit, ein Familienworkshop zur besseren Einordnung dislozierter Gefühle.
Erzählt wird der Verlauf der Reise aus Sicht von Gili. Sie ist Ende 30, filmt alles gemeinsam mit ihrem Vater und zeichnet die Gespräche auf. Ihre Beobachtungen und Emotionen hält sie in einer Art Tagebuch fest. Durch diesen Kunstgriff macht sich Grossman als Erzähler scheinbar unsichtbar. Gilis Film ist sein V-Effekt.
Hitzige und humorvolle Dialoge
David Grossman war mit dem realen Vorbild für Vera, der kroatischen Kommunistin Eva Panic-Nahir, befreundet und hatte der außergewöhnlichen Frau versprochen, eines Tages über ihr Leben zu schreiben. Als jüdische Partisanin hatte sie gemeinsam mit ihrem serbischen Ehemann an der Seite Titos gegen die Nazis gekämpft. Beide wurden später als Stalinisten angesehen, ihr Mann, die große Liebe ihres Lebens, brachte sich in Haft um, sie überlebte die Internierung auf der berüchtigten Gefängnisinsel Goli Otok.
Im Roman nun wird Vera vor die Wahl gestellt: die Ehre ihres Mannes zu verraten, oder ihre siebenjährige Tochter. Sie entscheidet sich, dem Mann treu zu bleiben. "Was Nina wusste" ist so auch die Geschichte einer großen Liebe. Und die lebenslange Tragödie eines verzweifelten Kindes.
Grossman gestaltet diese historische und tiefenpsychologische Exkursion szenisch stark, in gewohnt feinfühliger und empathischer Weise. Vergangenheit und Gegenwart schieben sich übereinander wie die Perspektiven der einzelnen Figuren.
Es gibt hitzige und humorvolle Dialoge, kunstvoll übersetzt Anne Birkenhauer Veras kroatisch gefärbtes Hebräisch in ein fremdfarbiges Deutsch. Durch sein hingebungsvolles Interesse für das Seelenleben der Figuren buchstabiert der Autor auch jede ihrer Gefühlsregungen aus.
Manchmal, hin und wieder, wäre ein bisschen weniger auch schon genug. Aber natürlich: Es sind ja Gilis Aufzeichnungen – wie könnte man dem Autor da etwas vorwerfen.