David Szalay: "Turbulenzen"

Der fragile Kern des Seins

05:50 Minuten
Das Buchcover "Turbulenzen" von David Szalay ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Die Suche nach Nähe: ein bestimmendes Thema in David Szalays "Turbulenzen". © Deutschlandradio / Hanser Verlag
Von Gabriele von Arnim |
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In seinem Episodenroman bündelt David Szalay verschiedene Lebensgeschichten. Anspielungsreich und manchmal nur mit Andeutungen erzählt er von einem großen Thema: Ob und wie man das eigene Leben gestalten kann und wie man es erträgt.
Eine Frau fliegt von London nach Madrid. Sie hat Flugangst und Angst um ihren Sohn, den sie mit Prostatakrebs allein in seiner Londoner Wohnung zurückgelassen hat. Das Flugzeug wird erfasst von Turbulenzen. Sie schlottert. Der Mann neben ihr verschüttet Cola auf seinen Anzug.
Mit fleckiger Hose fliegt er – jetzt sind wir schon auf dem zweiten Flug und in der zweiten Geschichte des Buches – weiter von Madrid nach Dakar. Sein Fahrer, der ihn abholt, wirkt aufgebracht, will aber nicht sagen, was ihn grämt. Als sie am Haus ankommen, packt den Mann aus dem Flugzeug ein Grauen, eine unerklärliche Angst.
Gleich geht es weiter in die dritte Geschichte. In Dakar sitzt ein Mann im Taxi und will zum Flughafen. Er muss nach São Paulo. Doch der Wagen kollidiert mit einem jungen Mofafahrer, der reglos auf der Straße liegen bleibt. Und so erfahren wir, dass der Geschäftsmann aus Dakar, dem vor seinem Haus das Grauen einfuhr, seinen Sohn verloren hat.

Raffiniert gebaute Literatur

Wir reisen in diesem schmalen Band in zwölf Episoden um die Welt, von São Paulo geht es weiter nach Toronto und Seattle, mit Zwischenstationen in Hongkong und Delhi. Am Ende landen wir wieder in London bei dem krebskranken Sohn der ersten Protagonistin, der jetzt allerdings von seiner Tochter besucht wird, die eigens aus Budapest angeflogen kam.
In jedem Kapitel wird von einer Person erzählt, die in dem vorhergehenden nur als Nebenfigur auftauchte. Ein dramaturgisch raffiniert gebautes Stück Literatur, das man nun Roman oder Reigen nennen mag.

Der Mensch an sich

Ein ähnliches Prozedere kennen wir bereits aus Szalays vorigem Roman "Was ein Mann ist". Auch da hat der 1974 in Kanada geborene und in London aufgewachsene Autor uns in viele Länder mitgenommen und in sehr unterschiedliche soziale Milieus eintauchen lassen.
Dort ging es um beschädigte Männerseelen. Jetzt geht es um den Menschen an sich. Um den fragilen Kern des Seins. Wie und ob man sein Leben gestalten kann. Oder wie man das erträgt, was – aus welchen Gründen auch immer – unabänderlich ist. Wie geht man mit sich um, wenn man die Tochter mit ihrem Neugeborenen besucht und diese einem gleich an der Tür entgegen schreit: "Er ist blind". Und wie, wenn man selbst nicht trösten kann, emotional versagt und nur hilflos murmelt, wie hübsch der Hinterkopf des Babys sei.

Turbulente Verzweiflungen, seltene Glücksgefühle

Szalay arbeitet gekonnt mit kleinen Szenen, mit Andeutungen und Anspielungen. Er verdichtet die immer wieder überraschenden Lebensgeschichten und sät in knappen Nebensätzen so viel Unsicherheit, Zärtlichkeit oder Verrat, das jeder Samen im Kopf wächst und wuchert, sich verästelt zu einer großen verschlingenden Pflanze, in der die turbulenten Verzweiflungen und seltenen Glücksgefühle wohnen.
Immer wieder geht es in den Geschichten um unsere Bedürftigkeit, um die Ur-Suche nach Nähe. "Bist du glücklich", fragt ein Mann eine Frau nach einer zufällig miteinander verbrachten Nacht. Man erschrickt fast ob der intimen Frage nach dem unverbindlichen Beischlaf.
Aber so ist es doch oft: Man öffnet sich dem, den man nicht kennt. Im Flugzeug oder im Bett. Unterwegs. Wenn man ziemlich sicher sein kann, den anderen nicht wieder zu sehen.

David Szalay : "Turbulenzen"
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser Verlag, München 2020
136 S., 19 Euro

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