David van Reybrouck: Für einen anderen Populismus. Ein Plädoyer
Aus dem Niederländischen von Arne Braun
Wallstein-Verlag, Göttingen 2017
96 Seiten, EUR 12,90
Populisten als Bereicherung der Demokratie?
Populistische Parteien sieht der belgische Historiker David van Reybrouck nicht als Gefahr, sondern als Chance. Diese würden nämlich dem vergessenen "unteren Rand der Gesellschaft" eine Stimme verleihen. Deshalb plädiert er für eine linkspopulistische Partei.
Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Populismus. Die politische Debatte heute erinnert an die Zeiten, als Karl Marx das "Kommunistische Manifest" schrieb. Kaum ein Tag vergeht ohne Warnung vor diesem Gespenst. Warum, um Himmels Willen, sollte man sich eine alternative Form dieses "süßen Gifts" ausdenken?
In seinem jüngsten Essay "Für einen anderen Populismus" deutet der belgische Historiker und Publizist Populismus weniger als Krankheit denn als Symptom. Sein aktueller Siegeszug resultiert für den Wissenschaftler aus einer Fehlentwicklung, der mit seiner Verteufelung nicht beizukommen sei.
Unterrepräsentation der Unterschicht in der Politik
Mit seinem "Plädoyer" knüpft van Reybrouck, Jahrgang 1971, an den Diskurs über die "Abgehängten" an, den Autoren wie der französische Soziologe Didier Eribon oder der Schriftsteller Édouard Louis angestoßen haben. Die größte Gefahr für die Demokratie sieht er in der Unterrepräsentation der Unterschicht in der Politik.
"Geringqualifizierte Autochthone" fühlten sich, so Reybroucks These, vom parlamentarischen System ausgegrenzt. Ihr derzeit grassierendes Misstrauen in die etablierte Politik habe auch damit zu tun, dass noch nie seit 1945 so wenig von ihnen in europäischen Parlamenten vertreten seien.
Die Deformation der parlamentarischen zur "Diplomdemokratie" der Höhequalifizierten hält er für den eigentlichen "Vorboten der Postdemokratie".
Die Ungleichheit im Bildungswesen und die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt sorgten zudem für eine Kulturkluft, die Reybrouck als die "neue gesellschaftliche Bruchlinie" ausmacht. Trotz gelegentlich maßloser Rhetorik verleihe der Populismus diesem vergessenen "unteren Rand der Gesellschaft" eine Stimme.
Deshalb stellten populistische Parteien "eine Bereicherung der Politik" dar. Der Wissenschaftler rät zu mehr "Kaltblütigkeit" im Umgang mit den neuen Gegnern.
Widersprüchliche Strategie
So sehr Reybroucks Analyse überzeugt, so widersprüchlich argumentiert er bei der Strategie. Einerseits will er dem Populismus mit mehr Geringqualifizierten in den Parlamenten und einer Renaissance der "Volksaufklärung" das Wasser abgraben.
Und mit der Formel vom "Aufstand der demokratischen Beratung" wiederholt er sein Plädoyer für neue Modelle demokratischer Partizipation aus seinem Essay "Gegen Wahlen" vom vergangenen Jahr.
Andererseits will Reybrouck den Populismus gleichsam links überholen. "Das Schicksal der Geringqualifizierten ist zu wichtig, um es dem dunklen Populismus zu überlassen", begründet der Publizist sein Plädoyer für eine "große linkspopulistische Partei".
Van Reybroucks Essay ist ein leidenschaftlich geschriebenes Plädoyer, die Ursachen der gegenwärtigen Krise der Politik ernst zu nehmen. Es ist gerade deshalb lesenswert, weil er den Populismus nicht bloß schmäht.
Freilich läuft er Gefahr, Methoden und Stil des Gegners zu übernehmen. Denn "das Ideal des Weltbürgertums nicht für unvereinbar mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit" zu halten, klingt wie ein verklausulierter Tribut an die - nicht bloß rhetorische - Xenophobie des rechten Populismus. Womöglich ruft er damit am Ende Gespenster, die er nicht mehr loswird.