David Vann: "Momentum"

Eine alles vernichtende Schwärze

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Cover des Romans "Momentum" von David Vann vor orangefarbenem Hintergrund.
In "Momentum" schreibt David Vann über die letzten Tage im Leben seines Vaters. © Hanser Berlin / Deutschlandradio
Von Jörg Magenau |
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David Vanns Werk ist bestimmt vom gewaltsamen Verlust des Vaters: Er beging Suizid, als der Schriftsteller dreizehn Jahre alt war. Auch Vanns jüngster Roman "Momentum" erzählt von diesem Trauma. Ein literarisches und biografisches Wagnis.
Als David Vann dreizehn Jahre alt war, erschoss sich sein Vater. Dieses kindliche Trauma eines gewaltsamen Verlustes bestimmt das Werk des 1966 in Alaska geborenen amerikanischen Autors. Die Kurzgeschichtensammlung "Legend of a Suicide" und die Novelle "Im Schatten des Vaters" machten ihn vor zehn Jahren international bekannt, und auch sein neuer Roman mit dem deutschen Titel "Momentum" nimmt die Geschichte des Suizids des Vaters auf.
Dieses Mal schreibt der Sohn in einem harten, maschinenhaften Präsens direkt aus der Perspektive des Vaters. Er rekonstruiert dessen letzte Tage und Nächte in einem groß angelegten inneren Monolog oder vielmehr psychopathologischen Protokoll und stürzt sich als Autor mit ihm in die Abgründe der Depression. In dieser Bodenlosigkeit verschwindet alles, was der Kranke vermisst: Liebe, Beziehungsfähigkeit, Sinn, Lebensfreude, die sich, je länger man seinen zersetzenden Gedankenwegen folgt, in Häme, Einsamkeit, Nihilismus und Verzweiflung verwandeln. "Die Gedanken sind ein Fluch", sagt er. Tatsächlich sind sie eine Häckselmaschine, die das ganze Leben zerschreddert.
Das Ende ist von Anfang an absehbar, es verfestigt sich im "Momentum" als einer schicksalhaften Gewissheit, der zu folgen ist, "selbst wenn wir wissen, dass das, was kommt, nicht gut ist". Das behauptet jedenfalls der suizidale Jim Vann, der zu Beginn des Romans aus Alaska nach San Francisco fliegt und dort von seinem Bruder Gary am Flughafen abgeholte wird. Gary, der versucht, den verzweifelten Vernichtungswillen des Bruders zu brechen und ihn zu einem Therapeuten bringt, widerspricht: "Es gibt kein Momentum. Es gibt nur schlechte Entscheidungen."

Für die Depression gibt es keine Gründe

Doch für den Depressiven gibt es – jenseits der Entscheidung zum Suizid – keinen Punkt mehr, von dem aus er überhaupt etwas entscheiden könnte. Er schaut dem, was geschieht, nur noch zu, erkennt in seinem Leben nichts als blinde Routinen und Handlungen, für die sich kein Grund angeben lässt, und versucht vergeblich "etwas Grundsätzliches" zu verstehen. Auch für die Depression gibt es keine Gründe. Jims Steuerschulden, der falsche Beruf als Zahnarzt und die Trennung von der Geliebten Rhoda liefern zwar Anlässe, die angesichts seiner Gesamtverfinsterung aber lächerlich wirken. Jim kann nichts mehr helfen, auch nicht ein letztes Treffen mit Rhoda in einem Motelzimmer und schon gar nicht die Prostituierte, die er sich kommen lässt, weil seine sexuelle Obsession die einzige Kraft ist, die es mit seiner Verzweiflung aufnehmen kann.
Der Roman, in dem David Vann dann auch sich selbst als 13-Jährigen mit langen Haaren und Schlaghosen vorkommen lässt, ist ein biografisches und literarisches Wagnis. Biografisch, weil der Vater noch einmal die ganze Familie, Freundinnen und Freunde aufsucht. Vor allem der Besuch bei den in ihrem Provinzialismus und ihrer unveränderlichen Trostlosigkeit versackten Eltern, denen Jim seinen ganzen Menschen- und Selbsthass entgegenschleudert, bleibt im Gedächtnis. Dass ausgerechnet der frustrierte Vater, der nie ein Wort zu seinem Sohn gesprochen hat, sich schließlich zu einer Rede über die Langeweile der Existenz und zu einem Liebesbekenntnis aufschwingt, ist eine merkwürdige Pointe; Vater und Sohn sind sich in ihrem Lebensüberdruss näher, als sie glaubten.

Das Gegenteil einer vergnüglichen Lektüre

Literarisch besteht das Wagnis darin, dass die Geschichte keine Fallhöhe zulässt. Jim ist von Anfang an fertig und ganz unten angekommen, da kann sich, aller sprachlichen Gewandtheit und aller panischen Verzweiflung zum Trotz, nichts mehr bewegen. Die Geschichte ist schon am Ziel, bevor sie begonnen hat.
Gleichwohl zeigt Vann Depression als einen Zustand krankhafter Egomanie, als zügelloses Selbstmitleid, das jede Fiesheit gegenüber den Mitmenschen rechtfertigt. Vann treibt das so weit, dass man mit diesem Kranken bald kein Mitleid mehr hat und die finale Tat dann schließlich als Erlösung erlebt. Mag sein, dass er sich damit vom Trauma des Vaterverlustes frei geschrieben hat. "Momentum" ist ein nur schwer genießbarer Brocken, den man aushalten muss, so wie auch der arme Therapeut, der Jim vergeblich zu helfen versucht, dessen Tiraden und Beschimpfungen ertragen muss. "Momentum" ist das Gegenteil einer vergnüglichen Lektüre, in seiner nihilistischen, alles vernichtenden Schwärze aber ein eindrucksvolles, verstörendes Buch.

David Vann: "Momentum". Roman
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber
Hanser Berlin, Berlin 2020
300 Seiten, 24 Euro

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen: Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111 (kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei).

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