David Wagner: Der vergessliche Riese
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
272 Seiten, 22 Euro
Erinnerungsreisen mit dem dementen Vater
06:18 Minuten
David Wagner hat ein Buch über seinen dementen Vater geschrieben. "Der vergessliche Riese" besteht fast nur aus Dialogen, die Wagner hervorragend gelungen sind. Der Vater verliert am Ende alles - aber nicht seinen Charme.
Die Demenz ist in den letzten Jahren zu einem großen Thema der Literatur geworden. Schriftsteller berichten in autobiographischen Texten vom Niedergang ihrer Väter oder Mütter. Die Kranken und ihre Verfallssymptome werden dabei zum Objekt der Beobachtung und Erklärung. Und die Autoren erzählen davon, wie die Krankheit der Eltern ihr eigenes Leben verändert hat, wie sie sich von den Aufgaben der Fürsorge und Pflege herausgefordert und oft überfordert fühlen.
Der Berliner Schriftsteller David Wagner macht es nun ganz anders. Mit beschreibenden und erklärenden Passagen hält er sich zurück. Der Vater, Anfang 70, ist in seinem Buch weniger Objekt der Beobachtung als Stimme, sprechendes Subjekt.
Die Familie kommt bei Beerdigungen zusammen
"Der vergessliche Riese" besteht fast nur aus Dialogen; zum größten Teil Gespräche zwischen Vater und Sohn. Dieser heißt ebenfalls David, lebt in Berlin und besucht den Vater regelmäßig im Rheinland. Die Handlung ist davon bestimmt, dass gemeinsam Erinnerungsreisen zu Orten der Familiengeschichte unternommen werden und die erstaunlich zahlreichen Familienangehörigen immer wieder bei Beerdigungen zusammenkommen.
Das Aufzeichnen der kreisenden Dialoge mit einem Demenzkranken ist Wagner vorzüglich gelungen. Was Angehörige oft zur Verzweiflung treibt, liest sich hier jedoch fast komödienhaft. Mit beneidenswerter Ruhe antwortet der Sohn auf die immer gleichen Fragen des Vaters, fast nie verliert er die Contenance.
Die Krankheit bestimmt in diesem Buch also die Erzählweise. Während es sonst unglaubwürdig und ungekonnt wirkt, wenn sich Figuren in Dialogen über Dinge verständigen, die der Leser erfahren soll, über die die Figuren aber eigentlich so genau Bescheid wissen müssten, dass ihre Erwähnung nicht plausibel ist (etwa: "Du weißt ja, du hast Volkswirtschaft studiert, in Bonn gearbeitet, und deine zweite Frau Claire ist kürzlich gestorben"), so haben solche Vergewisserungen im Fall der Demenz einen anderen Charakter: Der Betroffene weiß es im Moment ja wirklich nicht mehr. Hier geht es um ein hintergründig legitimiertes Erzählen des Selbstverständlichen, das nicht mehr selbstverständlich ist.
Das ständige Wiederholen als beinahe mythisches Ritual
Das ständige Wiederholen wird als Wieder-Holen zu einem beinahe mythischen Ritual, bei dem sich auch der Sohn seiner Hintergründe und Herkunftsgeschichten versichern kann. Auf dieser Ebene liest sich das Buch als ungewöhnlich komponiertes Großfamilienpanorama über drei Generationen, zwischen denen Reibung besteht: Die Großeltern waren überzeugte Nationalsozialisten, der Vater ein bildungsbürgerlicher 68er.
Was den Umgang mit diesem alten Herrn angenehm macht, ist der Umstand, dass er sich seines Vergessens sehr bewusst ist, es immer wieder bedauernd eingesteht. Er ruft nie verärgert "Du denkst wohl, ich bin blöd!", wenn der Sohn seiner Erinnerung aufzuhelfen versucht.
Die Wut- und Frustemotionen, die mit dem Erleben der eigenen Unzulänglichkeit verbunden sind, das paranoide Misstrauen und die Vorwürfe und Unterstellungen gegenüber den Angehörigen – all das spart Wagner fast völlig aus. Sein Vater verliert vieles, aber nicht den Charme, nicht die Kultiviertheit. Indes schreitet die Demenz auch hier voran, bis er am Ende den Sohn in manchen Momenten nicht mehr erkennt.
Das Ende bleibt offen.