François Jullien, Ressourcen des Christentums. Zugänglich auch ohne Glaubensbekenntnis, Aus dem Französischen von Erwin Landrichter, Gütersloher Verlagshaus 2020, 128 Seiten, 15 Euro
Sinnsuche im postreligiösen Zeitalter
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Was tun mit Religionen, wenn wir nicht mehr an sie glauben können oder wollen? Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins und der Philosoph François Jullien geben darauf in ihren neuesten Büchern höchst gegensätzliche Antworten.
Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, einer der bekanntesten und streitbarsten Atheisten unserer Zeit, will auch in seinem neusten Werk die Dummheit religiösen Denkens nachweisen. Dagegen versucht der Philosoph und Sinologe François Jullien zu zeigen, dass im religiösen Denken und in der Bibel philosophische Schätze lagern, die ganz unabhängig vom christlichen Glauben wertvoll sein können.
Atheismus als leichte Kost
Dawkins "Atheismus für Anfänger" liefert genau, was der Titel verspricht: eine leicht zugängliche Version seines religionskritischen Denkens. In einem ersten Teil wird die atheistische Grundkritik an traditionellen Religionen, insbesondere dem Christentum, ausgebreitet: Wenn es so viele Religionen gibt, viele von ihnen ausdrücklich monotheistisch, welcher der unterschiedlichen Götter soll es denn sein? (Dawkins zufolge: keiner.) Was ist der Status der biblischen Geschichten? (Dawkins meint: Mythen.) Braucht es Religion, um ethisch zu handeln? (Er schreibt: Nein, natürlich nicht.)
In einem zweiten Teil versucht der Autor dann ein paar Grundlagen der Evolutionstheorie zu vermitteln, inklusive der Frage, woher eigentlich der menschliche Hang zum seiner Meinung nach so eindeutig unvernünftigen religiösen Denken und Glauben kommt.
Kritik durch Vernunft
Das ist alles flott und gut verständlich geschrieben. Der Leser wird geduzt, was natürlich auch eine Übersetzungsentscheidung ist, aber inhaltlich insofern stimmig, als sich Dawkins beim Schreiben ganz offensichtlich einen Teenager aus der amerikanischen Provinz vorstellt, dessen Eltern die Evolution leugnen und jedes Wort in der Bibel für wissenschaftliche Wahrheit halten.
Dagegen argumentiert er erkenntnistheoretisch: Religion halte der Kritik durch die Vernunft nicht stand und sei folglich nur für Dumme. Ob solche Argumente diesen Teenager in seinen vielfältigen sozialen Abhängigkeiten von der religiösen Community wirklich erreichen, sei dahingestellt. Am durchschnittlichen westeuropäischen Leser, dessen Verständnis von Religion diese keineswegs in Konkurrenz zur Naturwissenschaft stellt und mit wörtlicher Bibelauslegung nicht gut beschrieben ist, argumentiert das Buch sowieso über weite Strecken vorbei.
Ganz anders und auch auf ganz anderem Niveau steigt Jullien ein. Der bekannte Sinologe hat schon vor einiger Zeit in seinem sehr lesenswerten Essay "Es gibt keine kulturelle Identität" die Idee der "kulturellen Ressource" entwickelt, die er nun in seinem Buch "Ressourcen des Christentums" aufnimmt. Kurz zusammengefasst besagt diese Idee, dass intellektuelle und kulturelle Traditionen nicht einem spezifischen Volk oder einer Kultur gehören, sondern, sofern sie fruchtbar sind, für die Menschheit insgesamt nützlich sind.
Damit können etwa arabische Migranten sich auf Voltaire oder Kant berufen, während Europäer sich von Konfuzius inspirieren lassen können. Und niemand hat das Recht, zu meinen, irgendetwas sei eben "unsere" Kultur und würde von den "anderen" (beispielsweise Migranten) nicht verstanden. Jullien zufolge gibt es mithin keine einheitlichen Kulturen, sondern nur mehr oder weniger interessante Ideen, die gemeinfrei sind. Ressourcen eben.
Anregende Ideen freilegen
Was nun die spezifischen Ressourcen des Christentums betrifft, so will Jullien sie – anders als man vielleicht erwarten könnte – gerade nicht in schönen und allgemeinen ethischen Grundsätzen wie beispielsweise Nächstenliebe sehen, die man auch ganz säkular und ohne Glauben an die Offenbarung gutheißen kann.
Er versucht vielmehr im Durchgang durch das Johannesevangelium grundlegende, für das philosophische Denken anregende Ideen freizulegen. Beispielsweise die für die Philosophie gar nicht so leicht zu beantwortende Frage, wie eigentlich Neues in die Welt kommen kann, wie also ein Ereignis überhaupt möglich ist?
Was interessant beginnt, schraubt sich aber im Verlauf des Essays in philosophisch-theologische Höhen hinauf, die in ihrem Abstraktionsgrad wohl nur für sehr fortgeschrittene Philosophen und theologisch informierte Leserinnen interessant sind.
Zwei stilistisch und in ihren Intentionen sehr unterschiedliche Bücher also für das postreligiöse Zeitalter – eines eher eine Unterforderung, das andere eindeutig eine Herausforderung.
Richard Dawkins, Atheismus für Anfänger. Warum wir Gott für ein sinnerfülltes Leben nicht brauchen, Aus dem Englischen von Sebastian Vogel, Ullstein Verlag 2020, 320 Seiten, 18 Euro