Als sich Bürger in Bewegung setzten
Sie wollten mitreden und die Zustände in der DDR nicht mehr akzeptieren, die Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung "Neues Forum". Obwohl sie eigentlich nicht als Revolutionäre angetreten waren, führte ihr Aufbegehren letztlich doch zum Umsturz.
Spätsommer 1989 in der DDR: In Leipzig begannen die Montagsdemonstrationen, und nur wenige Tage später, am 9. September, trafen sich Bürgerrechtler bei Katja Havemann, der Witwe des verstorbenen Regime-Kritikers Robert Havemann, im brandenburgischen Grünheide, rund 50 Kilometer südöstlich von Berlin. Unter ihnen Bärbel Bohley, seit Jahren in der DDR-Friedensbewegung engagiert, der Jurist Rolf Henrich, der Molekularbiologe Jens Reich und der Physiker Sebastian Pflugbeil:
"'89 war für doch ziemlich viele Leute klar, dass das irgendwie so nicht gut weitergehen würde. Abgesehen, dass zunehmend mehr Leute versucht haben, rauszukommen, starke Ausreisebewegung. Und es gab die Sache mit dem Wahlbetrug, und die Politiker waren verkalkt und handlungsunfähig und die Wirtschaft dümpelte so dahin. Und da wurden 30 Leute, wenn ich mich recht erinnere, handverlesen zusammengetrommelt, aus verschiedenen sozialen Schichten, aus verschiedenen Bezirken, dass das so einigermaßen repräsentativ war. Und dann entstand eine Seite Text, mit der Schreibmaschine abgetippt, jeder hat einen Durchschlag mitgenommen und zu Hause wieder mit der Schreibmaschine abgetippt, an ein paar Freunde verschickt. Und das Papier, was relativ zahnlos war, wir wollten Dialog, ja, vorsichtige Forderung, keine Revolution oder so, das ging dann wie eine Lawine, unerwartet, über die DDR. Und dann kam eine Lawine von Zuschriften zurück von Leuten, die das auch so sahen und mitmachen wollten. Und das wurde dann das 'Neue Forum'."
"Wir wollten mitreden"
Das "Neue Forum" entwickelte sich schnell zur stärksten Bürgerrechtsbewegung. Die Oppositionellen setzten auf eine andere, eine reformierte DDR. Sie forderten uneingeschränkte Grundrechte, Versammlungs- und Pressefreiheit, Freizügigkeit, einen demokratischen Rechtsstaat. Am 19. September beantragten sie beim Ministerium des Innern, das "Neue Forum" als Vereinigung zuzulassen. Als "staatsfeindliche Plattform" denunziert, wurde der Antrag abgelehnt. Aber die Bürgerrechtler begehrten auf. Sebastian Pflugbeil:
"Es gab in den vielen Demonstrationen, die in dieser Zeit stattfanden, praktisch landesweit die Forderung, das "Neue Forum" zuzulassen, eine typische Losung dieser Demonstrationen. Das hat uns sehr berührt. Das war ja nicht inszeniert. Wir wollten mitreden, mit der Staatsmacht reden über die strittigen Dinge in der DDR, und da gab es Etliches. Man verhielt sich als Bürger, vielleicht das erste Mal, ja. Den Begriff Bürger würde ich so sehen, dass das Leute sind, die nicht bloß dahintrotten und machen, was sie sollen, sondern die ihren Grips benutzen, dass man sich einmischen möchte. Und das allein hat im Grunde genommen die Regierung gekippt und den ganzen überalterten DDR-Apparat aus dem Ruder gebracht. Und die Wirkung war einfach umwerfend."
Die DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" vom 8. November 1989:
"Im Ministerium des Innern fand heute ein Gespräch mit Bärbel Bohley, Jutta Seidel und Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi über eine Eingabe statt, die die Anmeldung des "Neuen Forum" als Vereinigung betrifft. Daraufhin wurde mitgeteilt, dass die Anmeldung nunmehr vom Ministerium des Innern bestätigt ist."
An der eigenen "Schlafmützigkeit" gescheitert?
Am darauffolgenden Abend überstürzten sich die Ereignisse: Die Mauer fiel. Sebastian Pflugbeil und Jens Reich, Mitbegründer des "Neuen Forum":
Reich: "Zunächst mal war die Befreiung ein Riesenerfolg, ein Gefühl von ungeheurer Offenheit und allen Möglichkeiten und alles, was man tun konnte, worüber man reden konnte in der Öffentlichkeit, sich versammeln, gründen, Vereine, Runde Tische, all diese Dinge."
Pflugbeil: "Aber die Basis, die wir damals hatten in der Bevölkerung, die war von der einen Minute auf die andere weg."
Anfang Februar 1990 schlossen sich die Bürgerbewegungen zum Wahlbündnis "Bündnis 90" zusammen. Aber bei der ersten freien und zugleich letzten Volkskammerwahl im März 1990 waren sie rein numerisch die eindeutigen Verlierer. Sie erreichten knapp drei Prozent.
"Und da begann natürlich auch massiver Einfluss aus der Bundesrepublik, dann diese Schlafmützigkeit und dieses Gefühl, na, lass den Westen mal machen, die können das besser, was dann also langsam die Oberherrschaft gewann - 'ne Enttäuschung, das will ich gern zugeben."