Ein einmaliges historisches Gedächtnis
Ein DDR-Archiv? In Westdeutschland? Nach der Wende wurde die Kunsthistorikerin Monika Wagner für verrückt erklärt. Doch heute ist das Archiv ein Kleinod für DDR-Alltagskunst - und das Ergebnis einer ungewöhnlichen Rettungsaktion.
"Abstraktes" / "Ästhetisches" / "Aktdarstellungen" / "Arbeit" ...
Die großen Metallschränke, die im DDR-Archiv an einer Wand stehen, und in denen dichtgedrängt DIN-A-4-Ablagen hängen, beherbergen etwas Einzigartiges:
"Nämlich ein Bildarchiv mit ungefähr 10.000 Abbildungen, die alle ikonografisch gegliedert sind. Also nicht nach Künstlern, sondern nach bestimmten Motiven, die für die DDR-Kunst entscheidend sind. 'Arbeitsbild' zum Beispiel oder 'Kollektiv', 'Sozialismus'. Und wir haben versucht, systematisch die offiziellen Zeitschriften und Publikationen der DDR auszuwerten, so dass Sie hier im Bildarchiv einen richtigen Zugriff auf das, was gängige DDR-Kunst war, haben."
Die Kunsthistorikerin Monika Wagner gründete das Archiv, baute es auf und betreute es lange Zeit. Es umfasst noch ein Pressearchiv und eine Bibliothek, die in Folge mehrerer Rettungsaktionen entstand: Als 1990 die DDR-Kunst in Depots verschwand, Kunst am Bau demontiert wurde, als Mahnmale und Denkmale geschleift wurden, als ganze Bibliotheken aufgelöst und Buchbestände geschreddert wurden, stand für die Professorin fest: Es muss etwas passieren!
"Zunächst einmal war es die Idee, möglichst viel Literatur und Kunst aus der DDR zu retten. Kunst nicht im Sinne von Originalwerken, sondern zu sichten, was überhaupt geschaffen wurde. Und was an Reproduktionen verfügbar war."
Bettelaktion durch die DDR-Bibliotheken
Grundstock bildete die Bibliothek des bekannten DDR-Kunsthistorikers Lothar Lang, die Monika Wagners Mitstreiter, der Kunstwissenschaftler Martin Warnke, für die Uni Hamburg ankaufen konnte.
"Und danach habe ich so eine Art Bettelaktion durch die DDR-Bibliotheken gestartet, und wir haben wahnsinnig viel Material bekommen."
Heute reihen sich in den deckenhohen Regalen Künstlermonographien, Ausstellungskataloge, Lexika und Fachzeitschriften aneinander. Dazwischen stehen hunderte kleiner Ausstellungsbroschüren.
"Jede Betriebseinheit, die so ein Künstlerkollektiv versorgte oder angebunden hatte, hat auch Ausstellungen gemacht und kleine Broschüren herausgegeben. Ganz wunderbare Sachen. Und wir sind ganz stolz darauf, dass wir eine Riesensammlung so genannter 'Kleinstschriften' haben."
Wer 1990 auf die Idee kam, im Westen ein DDR-Archiv aufzubauen, brauchte dafür eine Menge Rückgrat, denn die meisten hielten ihn - bzw. sie - für verrückt.
"Ja, das muss man so sagen. Und zwar von ganz unterschiedlichen Seiten. Aus der ehemaligen DDR haben wir ziemlich bittere Anklagen bekommen, dass wir so eine Art Raub betreiben, und im Westen hat man uns verdächtigt, dass wir den zusammengebrochenen Kommunismus retten wollten. Also: Das DDR-Archiv befand sich zwischen allen Stühlen."
Historisch und gleichzeitig aktuell
Heute ist das Archiv ein einmaliges historisches Gedächtnis, das die Erinnerung an all das bewahrt, was damals aus dem öffentlichen Raum - und damit aus dem öffentlichen Bewusstsein - getilgt wurde.
"Die Kunst im öffentlichen Raum, die ja in ungeheurem Maße in der ehemaligen DDR heutzutage verschwunden ist, ist inzwischen historischer Forschungsgegenstand. Weil angesichts unserer Veränderungen im Sinne von Gentrification die Frage nach dem öffentlichen Raum brisant gemacht hat und dort hat die Abstraktion ihre unglaublichen Variationen gehabt. Bei der Gestaltung von Brunnen, von Hauswänden etc., das kann man in unserer Bilddatenbank wunderbar sehen, ist die größte Abteilung: 'Abstraktion'."
Allein die Stichworte des Bildarchivs lassen erahnen, wie viele historische und gleichzeitig aktuelle Themen das DDR-Archiv birgt. "Friedensappelle", "Faschismus", "Kolonialismus/ Rassismus", "Revolution/ Aufstände"...
"Man kann hier mit einem Griff die Bandbreite solcher Themen, wie sie in der DDR-Kunst verhandelt wurde, greifen. Von daher liegen hier ungeahnte Potenziale für künftige Ausstellungen, für Recherchen, für Arbeiten, die man auf solcher Basis machen will. Eben nicht Künstlerheroen, sondern Themen!"