DDR-Sieg vor 50 Jahren

Ein Fußballspiel als Klassenkampf

23:43 Minuten
Franz Beckenbauer (links) gegen Jürgen Sparwasser im Spiel der Bundesrepublik gegen die DDR bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in Hamburg
Bei dem historischen Spiel 1974 in Hamburg waren Franz Beckenbauer (links) und Jürgen Sparwasser dabei. © Imago / Vdia Gruppe Gruppe 1 Hamburg
Von Knut Benzner · 02.06.2024
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Die DDR hatte sich 1974 zum einzigen Mal für eine Fußball-WM qualifiziert. Es war eine hochpolitische Angelegenheit, denn in der Gruppenphase spielte das Team gegen die Bundesrepublik - und siegte. Was bleibt von diesem deutsch-deutschen Vergleich?
Die Aufstellung der DDR-Auswahl: Croy, Bransch, Kische, Kurbjuweit, Weise, Wätzlich, Irmscher, Kreische, Lauck, Sparwasser, Hoffmann.
65. Minute Hamann eingewechselt für Hoffmann.
Live-Kommentar: "Anstoß hat die BRD-Auswahl, DDR! DDR! DDR!"
Das Team der Bunderepublik: Maier im Tor, davor Schwarzenbeck, Beckenbauer, Vogts, Breitner, Cullmann, Overath, Hoeneß, Gerd Müller, Flohe und Grabowski.
Live-Kommentar: "Der Auswechselspieler von Vorwärts Ost-Berlin hat die Mittellinie überdribbelt, sieht sich jetzt Beckenbauer gegenüber, zieht es vor, steil zu spielen auf Sparwasser, schöne Aktion."
68.Minute Höttges eingewechselt für Schwarzenbeck, eine Minute später Netzer für Overath.

Die halbe Welt war geteilt

Der Sommer 1974 war kein schöner Sommer. Er war regnerisch und kalt, in Hamburg waren an jenem Abend gerade 17 Grad.
Die halbe Welt war geteilt, zwar war es zwischen den beiden deutschen Staaten zu einer Reihe bilateraler Vereinbarungen gekommen, doch der Rücktritt Willy Brands als Bundeskanzler der Bundesrepublik beziehungsweise der Anlass seines Rücktritts, nämlich die Enttarnung des persönlichen Referenten Günter Guillaume als Spion der DDR, trugen keinesfalls zu einem ausgleichenden Klima, geschweige denn ausgewogenen Bedingung bei.
Jutta Braun, Historikerin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, sagt:  
"Gleichzeitig machte sich in den 70er-Jahren ein gewisser Pragmatismus auf allen Seiten breit, zumal ja auch beide deutsche Staaten mittlerweile in die UNO aufgenommen worden waren. Die Verhältnisse in der DDR hatten sich zum einen scheinbar stabilisiert. Erich Honecker hatte mit seiner Politik Wert darauf gelegt, einen gewissen Wohlstand zu schaffen - in der Wohnungsbaupolitik, in anderen Bereichen. Die DDR war in der Tat zur großen Überraschung und auch zum Ärger der Bundesrepublik bei Olympia hoch überlegen.
Das wurde damit natürlich zu einem ganz, ganz wichtigen Prestigeanker. Es gab den sogenannten Staatsamateurismus, wobei das eigentlich ein Spottbegriff aus dem Westen war. Der bezeichnet im Grunde genommen, dass offiziell die DDR-Sportler und Sportlerinnen Amateure waren, das schrieb ja das olympische Reglement vor. Faktisch aber waren sie vom Staat angestellt, in verschiedenen staatlichen Einrichtungen - und haben in der Tat wie Profis trainiert."
In sämtlichen Bereichen, auch im Fußball.

Die DDR hatte, anders als bei Olympia 1972, beim Fußball nicht ganz so hohe Erwartungen, weil sie einfach wusste, dass die DFB-Elf notorisch erfolgreicher ist als der DDR-Fußball. Insofern war dieser Erfolg tatsächlich ein Überraschuserfolg.

Historikerin Jutta Braun

1974 war Berlin Hauptstadt der DDR, für den anderen Teil galt die Schreibweise Westberlin in einem Wort.

"Das war definitiv ein Klassenkampf auf dem Rasen"

Fußballer des Jahres? Beckenbauer und Bransch, im Osten.
Er schoss im entscheidenden Qualifikationsspiel die DDR mit zwei Toren gegen Rumänien zur WM.
Gewinner des Europapokals der Pokalsieger? Der 1.FC Magdeburg, 2:0 gegen den AC Mailand in Rotterdam vor 5000 Zuschauern.
Durch das Los, gezogen vom elfjährigen Detlef Lange, Mitglied der Schöneberger Sängerknaben, waren am 5. Januar 1974 im Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main die beiden Staaten BRD und DDR zusammen in eine Gruppe gekommen.
Die DDR stand vorne, somit lautete die Paarung DDR gegen BRD, nicht umgekehrt. Das Gerücht am Ende der Veranstaltung, die DDR würde aufgrund des Aufeinandertreffens mit der Bundesrepublik einen WM-Rückzug erwägen, wurde von Verantwortlichen der DDR schnell dementiert.
Thomas Blees, Autor des Buches „90 Minuten Klassenkampf“, sagt:

Das war definitiv ein Klassenkampf auf dem Rasen. Das hat mir Rudolf Hellmann bestätigt, der im Zentralkomitee der SED für Sport zuständig war. Der Sport war ganz explizit ein Teil dieses Klassenkampfes, und immer eine Klassenkampffrage, wenn Sozialismus und Kapitalismus aufeinandertrafen. Insofern kann man durchaus mit Fug und Recht sagen, dass dieses Fußballspiel  90 Minuten Klassenkampf bedeutete.

Thomas Blees, Autor des Buches „90 Minuten Klassenkampf“

Funktionäre sahen Verschwörung des Westens

Blees ergänzt:
"Die politische Bedeutung dieses Spiels wurde schon deutlich in der Reaktion  des Präsidenten des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR, Manfred Ewald, witterten die DDR-Oberen, also die Funktionäre, die Sportfunktionäre, eine böse Verschwörung des Westens. Man war allen Ernstes der Meinung, dass eine politische Absicht dahinter steckte, dass diese beiden Mannschafften gegeneinander gelost wurden. Der Generalsekretär des Deutschen Fußball-Verbandes der DDR, Günter Schneider, kam nach Berlin zurück, und Manfred Ewald hat ihn wutschnaubend empfangen und gesagt, warum er denn nicht verhindert habe, dass die DDR mit der Bundesrepublik in eine Gruppe gelost worden sei."
Blees' Buch, er beschreibt auf 150 Seiten alles, was dazu gehörte, ist vergriffen, kann allerdings unter dem Titel des Buches über das Internet eingesehen werden.

Klassenkampf beziehungsweise politische Programme sowie Folgen allenthalben:
Blees: "Die Stadt war aufgeteilt unter den vier Besatzungsmächten nach dem Zweiten Weltkrieg und gehörte offiziell nicht zur Bundesrepublik, das war faktisch so. Deswegen hatte die DDR zunächst auch nicht eingesehen, dass überhaupt Spiele einer Fußballweltmeisterschaft, die offiziell in der Bundesrepublik, nicht in West-Berlin stattfinden sollten.
Das bekam dann umso mehr Brisanz, als ausgerechnet die DDR-Fußballer in West-Berlin zum Gruppenspiel gegen Chile antreten sollten. West-Berlin war auch insofern ein politisch brisanter Punkt, als er von den Funktionären in der Vorbereitung der DDR-Elf auf die Weltmeisterschaft extra ins Programm aufgenommen wurde. Denn es war auf DDR-Seiten üblich, vor großen Wettbewerben in allen Sportarten, die Sportler des eigenen Landes auf die jeweiligen politischen Gegebenheiten in dem Gastgeberland vorzubereiten - und das war auch der Fall in der Vorbereitung auf die Fußballweltmeisterschaft."

Die Spieler wurden geschult

Die Spieler wurden geschult, über die Rolle von West-Berlin, über die Außenpolitik der Regierung Brandt/Scheel und über das Vier-Mächte-Abkommen. Sie waren sogar vorher da - und weil West-Berlin um die Ecke lag, quasi mittendrin, durften zum Spiel Chile - DDR 3000 Kader der DDR - statt der von der DDR genehmigten 1500 bei den anderen Begegnungen.
Und in der BRD?
Die ganze WM wurde relativ unaufgeregt wahrgenommen, kein Fahnenmeer außerhalb der Stadien, bisweilen wenige Zuschauer - DDR-Australien 17.000, Australien-Chile 17.000, Bulgarien-Uruguay 13.000 - die Zeitung mit den großen Buchstaben titelte vor dem Klassenkampfspiel: „Warum wir heute gewinnen“ und nachher „So nicht, Herr Schön“, gemeint war der gebürtige Dresdner Bundestrainer Helmut Schön, und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, 1974 aufrecht konservativ, war Fußball an sich sowieso zuwider und das "Neue Deutschland", die SED-Parteizeitung, hatte die Begegnung auf Seite soundso verbannt.
Peter Heymann, 84, Doktor der Physik, mein Schwiegervater, sagt:
"Das Spiel zwischen der Bundesrepublik und der DDR habe ich mit großem Interesse im West-Fernsehen verfolgt. Der Ausgang des Spiels war natürlich für uns enttäuschend, weil wir wollten, dass die Bundesrepublik gewinnt, denn die DDR hat ja in verschiedenen Sportarten immer gewonnen, in Leichtathletik, Schwimmen und Turnen - und so war Fußball doch die Domäne der Bundesrepublik."

Wie ZDF-Reporter Skulski das Spiel erlebte

Thomas Skulski, Jahrgang 1959, Sportreporter, seit Langem beim ZDF, unter anderem für das Morgen- und Mittagsmagazin.  
ZDF-Sportreporter Thomas Skulski
ZDF-Sportreporter Thomas Skulski sah das Spiel im DDR-Fernsehen.© Knut Benzner
Skulski, damals 14, sah das Spiel mit seinem Vater in dessen Bäckerei, DDR-Fernsehen.  
Skulski: „Und waren auch für die DDR-Mannschaft. Mein Vater war für die DDR-Mannschaft, ich war für die DDR-Mannschaft, und wenn ich jetzt meine Kumpels vom Fußballverein nehme: Da konnte man sagen, zwei Drittel waren für die Bundesrepublik, aber ein Drittel war auch sehr eindeutig für die DDR-Mannschaft."
Skulski hat ein Album, ein Fußballalbum dabei, selbst geklebt:
"Das sind Sammelbilder, die in den Sprengel-Schokoladen waren. Vor der Weltmeisterschaft 1974 lagen in jeder Sprengel-Schokoladentafel diese Sammelbilder."
Aber Sprengel war doch wie Bahlsen Hannover ...
Skulski:Ja, Westschokolade, die man geschickt bekommen musste, in einem Paket, von netten Verwandten. Wir haben nette Verwandte, in Hamburg, die auch hin und wieder Pakete schickten, aber es reichte natürlich überhaupt nicht. Also bat ich darum, dass dann fünf oder zehn Tafeln Sprengel-Schokolade drin sind. Ich hatte immer schon den Hang zu spielen und hatte so ein Tischfußballspiel - und da haben wir immer um Sprengel-Bilder mit den Kumpels gespielt."
Es muss manche Verwandte im Westen gegeben haben.
Skulskis WM-Buch: mit selbstgetippten Aufstellungen und mit Kadern aller Beteiligten.
Sein Resümee:

Ich habe immer schon Konstellationen ausgerechnet, das gehört für mich zum Spannenden des Sports. Ich fand es total blöd, dass es durch diesen Sieg die schwerere Gruppe gegeben hat - mit Niederlande, Brasilien, Argentinien. Während die Bundesrepublik den vermeintlich leichteren Weg gehen konnte. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass dieses 1:0 der DDR-Mannschaft dem Team Beckenbauer geholfen hat, 1974 Weltmeister zu werden.

ZDF-Reporter Thomas Skulski

Das Tor

Kurz nach 21 Uhr, die 77. Minute.
Heinz Florian Oertel, Kommentator des DDR-Fernsehens: "Sparwasser, Sparwasser, und Tor, Jürgen Sparwasser aus Magdeburg.“
Heribert Faßbender, ARD-Kommentator: „Hamann, der Auswechselspieler von Vorwärts Ost-Berlin hat die Mittellinie überdribbelt, sieht sich jetzt Beckenbauer gegenüber, zieht es vor, steil zu spielen auf Sparwasser, schöne Aktion, Schussmöglichkeit - und Tor.“
Anzeigetafel im Hambuger Volksparkstadion bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 beim Spiel DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland
Die Anzeigetafel im Hambuger Volksparkstadion zeigt das Ergebnis des Spiels.© dpa / picture alliance

Der jüngste Spieler war 19 Jahre alt

Martin Hoffmann, 1. FC Magdeburg, war der jüngste Spieler auf dem Platz, gerade mal 19. Horst-Dieter Höttges sollte sein letztes Länderspiel machen, Günter Netzer sein einziges bei einer WM, alle 1500 DDR-Touristen fuhren aus Hamburg zurück nach Hause, Jürgen Sparwasser blieb 1988 drüben - also hier, oder da, je nachdem.
Hatte die BRD die Begegnung gegen die DDR absichtlich verloren?
Bewahre.
War die zweite Runde des Turniers - der Spielmodus dieser WM umfasste eine Vor- und eine Hauptrunde und damit nur zwei K.-o.-Spiele, das Spiel um den dritten sowie das um den ersten Platz. War die zweite Runde des Turniers für die DDR schwerer und die BRD leichter?
Nun ja, die DDR verlor in der Folge unglücklich gegen schwache Brasilianer, spielte unentschieden gegen noch schwächere Argentinier und war gegen die Niederlande ohne jede Chance.
Den Franzosen Philippe Collin sollte dieses Spiel DDR gegen BRD zu einer Graphic Novel mit dem Titel "Das Spiel" inspirieren, viel später, 2020, zwei Brüder, einer im Osten, einer im Westen, beide Geheimagenten, ein Familiendrama vor dem Hintergrund des Spiels.
Erwähnen wir die inzwischen verstorbenen: Flohe, Höttges, Grabowski, Müller,  Beckenbauer, Hölzenbein, erinnern wir an Blochwitz und Friese, die Ersatztorhüter der DDR, an Bransch, Wätzlich, Streich und Lauck.
Die Mannschaft der BRD wurde nach diesem Wettkampf nahezu umgestellt.

DDR-Team feierte 50-jähriges Jubiläum

Die Mannschaft der DDR traf sich am Wochenende des 3./4. Mai diesen Jahres zum 50-jährigen Jubiläum in Dierhagen, über Rostock,  im Strandhotel Fischland, neun einstige Akteure waren anwesend.
Croy, der Torwart, sagt 50 Jahre später:
"Schöne Zeit, wir erinnern uns gerne. Wenn das Treffen mit den ehemaligen Mannschaftskameraden in einer solch idyllischen Ecke stattfindet, was gibt es Schöneres als die Ostsee bei diesem Wetter. Wir freuen uns sehr und genießen das."
Ehemalige Spieler der DDR-Auswahl
Ehemalige Spieler der DDR-Auswahl trafen sich nun in Dierhagen wieder.© Knut Benzner

Auch Egon Krenz erinnert sich an das Spiel

Nicht weit vom Strandhotel Fischland entfernt wohnt Egon Krenz, inzwischen 87. 1989, noch vor dem 9. November,  war er der Nachfolger Erich Honeckers als Generalsekretär des ZK der SED sowie der letzte Staatsratsvorsitzender der DDR, damit faktisch Staatsoberhaupt. 1974 Erster Sekretär des Zentralrates der FDJ, der Freien Deutschen Jugend.
Frage an ihn, 50 Jahre später: Was hat er am 22. Juni 1974 gegen 19.30 Uhr gemacht?
Krenz: „Natürlich habe ich das Spiel geschaut – zu Hause in Wandlitz. Habe mich gefreut, dass wir gewonnen haben. Das einzige Spiel, das zwischen der DDR und der Bunderepublik stattfand, hat die DDR gewonnen."
Was nicht ganz stimmt: 1972 bereits war es in München während Olympia in der Zwischenrunde auch zu dieser Begegnung gekommen. Die DDR gewann mit fast der gleichen Aufstellung gegen die Amateure der BRD mit 3:2. Bei denen dabei waren Uli Hoeneß und Ottmar Hitzfeld.
Sonst noch? Die Hymnen der beiden deutschen Staaten hatten beziehunsweise haben tatsächlich das gleiche Versmaß. Probieren Sie's mal aus.

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