DDR-Bürgerrechtler Schefke über die Ostdeutschen

"Manchmal denke ich: Es geht uns zu gut"

08:11 Minuten
Der Journalist Siegbert Schefke steht mit seiner alten Videokamera auf dem Turm der Reformierten Kirche in Leipzig. Schefke filmte am 9. Oktober 1989 mit seinem Kollegen Aram Radomski eine Montagsdemo vom Turm der Kirche aus.
Der Journalist Siegbert Schefke erinnert sich auf dem Turm der Reformierten Kirche in Leipzig an die Wende. Am 9. Oktober 1989 filmte er mit seinem Kollegen Aram Radomski eine Montagsdemo vom Turm der Kirche aus. Die Bilder gelangten in den Westen. © Jan Woitas / dpa
Siegbert Schefke im Gespräch mit Ute Welty |
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Vor 30 Jahren lieferte er die Bilder vom Ende der DDR: Als Kameramann filmte Siegbert Schefke die Großdemos in Leipzig im Oktober 1989. Heute kann der Journalist die Wut vieler Ostdeutscher auf die Bundesregierung nicht verstehen.
Der DDR-Bürgerrechtler Siegbert Schefke spielte im Wendeherbst 1989 eine zentrale Rolle. Er filmte die Montagsdemonstrationen vom Kirchturm der Reformierten Kirche in Leipzig und schmuggelte die Filme in den Westen. Bekannt machte er – über die Grenzen der DDR hinaus - insbesondere Bilder von einer Großdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig.
Über persönliche Kontakte vermittelten er und sein Mitstreiter Aram Radomski das Bildmaterial an westliche Fernsehanstalten. "Wir haben uns so einen Kurierdienst aufgebaut - mit Menschen, die an der Grenze nicht kontrolliert werden", erzählt er in unserem Programm. Ein Spiegel-Redakteur habe die leeren Video-Kassetten in die DDR und die vollen aus der DDR herausgebracht.

"Toll, wie sich die Stadt verändert hat"

Wenn er heute manchmal auf dem Kirchturm in Leipzig stehe, dem Drehort des Jahres 1989, dann ziehe er eine positive Bilanz der Wendezeit: "Das finde ich schon toll, wie sich die Stadt verändert hat. Das ist für mich der Beweis, dass es sich gelohnt hat."
Nicht nachvollziehen könne er, wie heftig die Kritik an der Bundesregierung unter Teilen der Ostdeutschen heute sei. "Manchmal denke ich schon: Es geht uns zu gut. Wir haben eine Arbeitslosigkeit von teilweise unter fünf Prozent. Vielleicht ist es nicht allen klar, dass wir nicht alle 10.000 Euro im Monat verdienen können – oder 5000 Euro, sondern dass man sich auch mit ein bisschen weniger zufrieden geben muss."
Er glaube, dass die ostdeutsche Bevölkerung aktuell "manchmal zu sehr im Mittelpunkt und unter dem Brennglas der Beobachtung" stehe. Die drei Bundesländer Brandenburg, Sachsen und Thüringen, in denen jetzt Landtagswahlen anstehen, hätten zusammen gerade mal acht Millionen Einwohner. Insgesamt habe Deutschland aber 82 Millionen Einwohner. "So wichtig sind wir eigentlich auch nicht", meint der Bildjournalist über die Ostdeutschen.
(huc)
Blick auf die Montagsdemonstration: Siegbert Schefke filmte am 9. Oktober 1989 vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig.
Blick auf die Montagsdemonstration: Siegbert Schefke filmte am 9. Oktober 1989 vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig.© transit-Verlag / Siegbert Schefke

Film über den Städtezerfall in der DDR, SFB 1989, 8:22 Minuten
Kamera: Aram Radomski, Siegbert Schefke; Schnitt/Text: Roland Jahn

Siegbert Schefkes Buch "Als die Angst die Seite wechselte" ist im Berliner Transit-Verlag erschienen. Weitere Filme von Siegbert Schefke sind auf seiner Website zu sehen.

Das Interview im Wortlaut:

Ute Welty: Seine Bilder sind um die Welt gegangen: Journalist Siegbert Schefke hat die Montagsdemonstrationen in der DDR gefilmt und die Aufnahmen in den Westen geschmuggelt. Heute, am Jahrestag des Mauerbaus, ist Siegbert Schefke der erste Gast der Gesprächsreihe "Geteilte Geschichte – Gestalte Geschichte", und Gastgeber ist kein Geringerer als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Guten Morgen, Herr Schefke!
Siegbert Schefke: Guten Morgen!
Welty: Was bedeutet Ihnen das, heute beim Bundespräsidenten zu Gast zu sein, zusammen mit Georg Mascolo, der dann später für die ARD vom tatsächlichen Mauerfall berichtet hat?
Schefke: Das freut mich natürlich, das freut mich, das ist natürlich auch eine Ehre und es ist eine Wertschätzung, und ich habe die Einladung gerne angenommen. Das wird eine Diskussion sein mit über 100 Zuhörern, Zuschauern und ja, das wird Spaß machen.

"Fahrt einfach mal in die Ukraine"

Welty: Viele ehemalige DDR-Bürger stehen der heutigen Bundesrepublik ja zu Teil mehr als kritisch gegenüber. Wie geht es Ihnen damit?
Schefke: Tja, ich kann viele Sachen nicht nachvollziehen an Kritik, manchmal denke ich schon, es geht uns zu gut, wir haben auch eine Arbeitslosigkeit von teilweise unter fünf Prozent. Vielleicht ist das nicht allen klar, dass wir nicht alle 10.000 Euro im Monat verdienen können oder 5000, sondern man sich auch mit ein bisschen weniger zufriedengeben muss. Und ich empfehle manchmal, um ganz ehrlich zu sein, ich war jetzt in der Ukraine gewesen. Fahrt einfach mal in die Ukraine fünf Tage und guckt euch das mal an, was passiert, wenn es nicht diesen Transfer von Milliarden von D-Mark und Euro gegeben hätte. Guckt euch das einfach an in der Ukraine, ein Flug von Schönefeld hin und zurück 80 Euro, alles machbar. Dann wisst ihr, welche Partei ihr nicht wählen sollt.
Welty: Ihre Bilder gehören ja vielleicht zu den meistgezeigten journalistischen Sequenzen dieser Zeit, 1989. Wissen Sie, wie oft die gelaufen sind?
Schefke: Um ganz ehrlich zu sein, die Tage danach natürlich nicht, aber ich weiß, dass die Fotos, die mein Freund Aram neben mir vom Kirchturm gemacht hat am 9. Oktober 1989, ungefähr sechstausendmal gedruckt worden sind. So, und es gibt sicherlich ein paar, nicht ganz so viele Fernsehstationen damals, jedenfalls weiß ich nicht wie oft, aber ich finde es … Ich freu mich jetzt auch nicht täglich darüber, aber alle fünf Jahre. Und da ja alle fünf Jahre offensichtlich jetzt im Herbst ist, freue ich mich, gedenke dem zurück, gucke natürlich in die Zukunft und beschäftige mich natürlich mehr mit der Zukunft wie mit der Vergangenheit. Aber trotzdem freut es mich natürlich.
Welty: Aber was passiert denn da bei Ihnen, in Ihnen drin sozusagen, wenn Sie diese Bilder jetzt noch mal sehen?
Schefke: Nee, wenn ich sie sehe eigentlich gar nicht so, aber wenn ich mit dem einen oder anderen Fernsehsender noch mal auf den Kirchturm hochsteige und dann so runtergucke und gucke, wie sich die Stadt verändert hat, so von oben, so Drohnenblick. Das finde ich schon toll, wie sich die Stadt verändert hat und das ist der Beweis für mich, dass es sich einfach gelohnt hat. Es hat sich gelohnt.

"Es war der Beweis, dass es keine Gewalt gibt"

Welty: Wir reden vom Kirchturm in Leipzig. Damals sind 70.000 auf die Straße gegangen, und das konnten dann tags darauf auch alle sehen, denn es lief in den ARD-Tagesthemen. Was hat das für Reaktionen ausgelöst in der DDR?
Schefke: Na ja, es war der Beweis, dass es keine Gewalt gibt, dass es keine Gewalt von den Demonstranten aus gibt. Die DDR-Elite oder die DDR-Zeitungen hatten immer berichtet, da sind ein paar betrunkene Rowdys auf der Straße und die krakeelen da rum und wollen der DDR schaden. Und diese Bilder, unter anderem mit dem Sprechchor "Wir sind keine Rowdys", dokumentierten das ja, dass wir nicht besoffen auf der Straße rumlaufen. Diese Zahl, 70.000, haben wir so festgelegt im Vorhinein schon, dass es so viele sein könnten und werden, wir wollten nur alle eine Zahl nennen. Zehn Jahre später haben Historiker festgestellt 'Wie kommen Sie auf 70.000? Es waren über 100.000!' - und da musste ich dann schmunzeln. Ja, zwei Wochen später Verdopplung, drei Wochen später Verdreifachung. Und vor allen Dingen zwischen 9. Oktober und 9. November dreißigmal schlafen, Totalschaden der DDR, mehr ging da eigentlich gar nicht.
Welty: Auf welchem Weg ist das Filmmaterial überhaupt nach Hamburg gekommen?
Schefke: Das ist eine etwas ausführliche Geschichte. Es ist damals wie heute Netzwerk. Netzwerk ist alles, Telefonnummern haben, Adressen haben, und mein Freund Roland Jahn in Westberlin und ich, wir haben uns so einen Kurierdienst aufgebaut mit Menschen, die an der Grenze nicht kontrolliert werden, also die einen diplomatischen Status hatten. Und ein "Spiegel"-Redakteur, der hatte diesen Ausweis, wurde nicht kontrolliert, hat oft Sachen hin- und hertransportiert, leere Kassetten her, volle Kassetten raus. Das war so ungefähr der 25. Beitrag, den mein Freund Aram Radomski und ich gedreht hatten, und, ja das sind nun mal die bekanntesten Bilder, und das hat natürlich einen Vorlauf, einen logistischen Vorlauf, wie wir da überhaupt hingekommen sind nach Leipzig. Und, ja, es hat geklappt. Eine Woche davor hat es übrigens nicht geklappt, am 2. Oktober.

"Da ist schon was passiert an Leid"

Welty: War Ihnen klar, welche historische Verantwortung Sie übernehmen?
Schefke: Ach, weiß ich nicht, Verantwortung. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, aber ich glaube, ja, die großen Bilder … - ich glaube, wir haben einfach die Maueröffnung 14 Tage vorgezogen.
Welty: Also sozusagen die Dinge etwas beschleunigt.
Schefke: Es wäre sowieso gekommen, denke ich immer heute, aber dadurch, dass es so friedlich war und so viele Menschen dann noch mehr Mut hatten und hinter ihren wackelnden Gardinen vorgekommen sind eine Woche und zwei Wochen später – ja, schön!
Welty: In wenigen Stunden sitzen Sie also mit dem Bundespräsidenten zusammen, der sich einen neuen Solidarpakt wünscht, da geht es dann nicht um Geld, sondern um Anerkennung. Haben Sie auch den Eindruck, dass die Lebensleistung derer im Osten nicht ausreichend anerkannt wird?
Schefke: Vielleicht stehen wir manchmal zu sehr im Mittelpunkt, zu sehr unter dem Brennglas, unter der Lupe, der Beobachtung.
Welty: Was meinen Sie damit?
Schefke: Wir haben jetzt Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern. In drei ostdeutschen Bundesländern, Brandenburg, Thüringen und Sachsen, das sind gerade mal acht Millionen Einwohner, mein Gott, Bayern hat 13 Millionen, NRW hat 18 Millionen – so wichtig sind wir eigentlich auch nicht von den 82 Millionen Deutschen. Aber man, ich habe gerade gestern in der Frankfurter Allgemeinen ... - mal bloß mal ein paar Zahlen: 300.000 politische Häftlinge in DDR-Zuchthäusern, 75.000 wegen Republikflucht inhaftiert, Hunderte erschossen, über tausend wahrscheinlich, 4,6 Millionen, die in die Bundesrepublik flohen. Das sind Zahlen über Zahlen, 120.000, die in sowjetischen Speziallagern überlebten, Zehntausende, die in die Sowjetunion verschleppt worden sind. Also, da ist schon was passiert an Leid, und dieses Leid, diese Mauer, die trennte ja nicht nur ein Land, die trennte auch meine Familie. Letztendlich sind alle in den Westen gegangen, nur mein Vater mit mir ist hiergeblieben und der Mutter. Da hat sich mein Vater übrigens Jahrzehnte drüber geärgert.
Welty: Seine Erfahrungen hat Siegbert Schefke in einem Buch zusammengefasst: "Als die Angst die Seite wechselte – die Macht der verbotenen Bilder". Herzlichen Dank für den Besuch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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