Von 1964 bis 1989 wurden im Jugendwerkhof Torgau in Sachsen mehr als 4000 Jugendliche eingesperrt. Heute ist dort eine Gedenkstätte. Wir haben mit dem wissenschaftlichen Referenten Ingolf Notzke darüber gesprochen.
"Torgau war offiziell der einzige Jugendwerkhof in der DDR, der als geschlossen galt", so Ingolf Notzke. "Das heißt, wir sprechen hier von einer freiheitsentziehenden Maßnahme der DDR-Jugendhilfe."
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Opfer fordern Rehabilitierung
In der DDR wurde es als "Durchgangsheim" bezeichnet, in Wirklichkeit war es ein Gefängnis im brandenburgischen Bad Freienwalde, wo Kinder und Jugendliche eingesperrt und misshandelt wurden. Die Opfer kämpfen bis heute mit den Folgeschäden und um die Anerkennung ihrer Leiden.
"Kommse mal rein…"
Heute dient das ehemalige Gefängnis für unbotmäßige Kinder und Jugendliche mitten in einem gutbürgerlichen Wohnviertel in Bad Freienwalde als Polizeiwache. Gut so, sagt Roland Herrmann, der 1980 als 14-Jähriger hier landete. Aus einem Ort des Schreckens sei ein Ort der Gerechtigkeit geworden.
"Der Zaun, der stammt hier von früher, der steht unter Denkmalschutz. Und dort war dann ein großes Tor, richtig eine doppelte Eingangsschleuse. Die ging dann auf. Die war etwas über vier Meter hoch. Und dann wurde man auf den Hof gefahren und dann sah man das Gebäude, total vergittert alles und man, ja, war geschockt fürs Leben."
Die Monate, die Roland Herrmann als Jugendlicher hier verbringen musste, haben dauerhafte Spuren hinterlassen. Über seine psychischen Probleme möchte der hagere Mann mit Cowboyhut nicht in ein Mikrofon sprechen. Er fühlt sich nicht wohl in geschlossenen Räumen, ist Frührentner, muss mit 550 Euro durchs Leben kommen, weil er in der DDR nach Durchgangsheim und Jugendwerkhof nie wieder auf die Beine kam. Hier in Bad Freienwalde fing das damals alles an.
"Erstmal kam man ja drei Tage in Einzelhaft. Und das bei Schmalzstullen und einen Becher Tee."
Roland Herrmann kam als Jugendlicher mit seinem Stiefvater nicht klar, flog aus dem Russischunterricht, schwänzte die Schule. Der Stiefvater war SED-Kader und Mitglied im Zentralkomitee. Herrmann ist sich ziemlich sicher, dass der die Finger im Spiel hatte, als die Jugendhilfe ihn nach Bad Freienwalde verfrachtete.
"Wir hatten ein heftiges Sportprogramm, denn die Mangelernährung, man hatte ständig Hunger und Durst, sowieso die Angst vor Bestrafungen."
Wer nicht parierte, kam in Einzelhaft, erzählt Roland Herrmann, oder es gab Prügel, Tritte, ein schwerer Schlüsselbund flog ins Kreuz.
"Man kann sich das vorstellen, wie so einen brutalen Knast. Weil, wir konnten ja sowieso nichts machen. Wir konnten ja keine Verbindung nach draußen aufnehmen."
Wo heute die Polizisten lichte Büros haben, drängten sich früher die engen Zellen: Zwei Doppelstockbetten auf sechs Quadratmetern, ein Blecheimer für die Notdurft. Gegenüber, auf der anderen Hofseite, liegt bis heute das Amtsgericht Bad Freienwalde. Die Richter und Anwälte dort hätten Einblick in das gehabt, was im Kinderknast vor sich ging, erzählt Roland Herrmann und schaut wie damals aus dem Fenster. Hilfe kam keine, im Gegenteil.
Wo heute die Polizisten lichte Büros haben, drängten sich früher die engen Zellen: Zwei Doppelstockbetten auf sechs Quadratmetern, ein Blecheimer für die Notdurft. Gegenüber, auf der anderen Hofseite, liegt bis heute das Amtsgericht Bad Freienwalde. Die Richter und Anwälte dort hätten Einblick in das gehabt, was im Kinderknast vor sich ging, erzählt Roland Herrmann und schaut wie damals aus dem Fenster. Hilfe kam keine, im Gegenteil.
"Wir haben da Leute gesehen und die haben uns dann ja auch gesehen. Wir immer mit den Händen durch die Gitter, versucht zu winken, zu rufen. Und dann war ruck zuck der Aufseher da und dann gab es schon wieder Dresche."
Kampf um Anerkennung und Rehabilitierung
Schule gab es nur notdürftig zwei Mal in der Woche. Nach seiner Zeit in Bad Freienwalde kam Roland Herrmann in den Jugendwerkhof Freital, musste anschließend in der DDR als Hilfsschlosser malochen. Ehemalige Heimkinder waren als Kriminelle abgestempelt, sagt er. Roland Herrmann hat einen Verein gegründet, um für die Rehabilitierung der ehemaligen Insassen von Bad Freienwalde zu kämpfen. Ohne die gibt es keinen Anspruch auf Opferrente. 2010 sind ehemalige Insassen von sogenannten "Durchgangsheimen" zwar ins Bundesrehabilitationsgesetz aufgenommen worden. Aber nahezu alle entsprechenden Verfahren dazu sind in Brandenburg gescheitert. So werde DDR-Recht auf heute übertragen, kritisiert der CDU-Abgeordnete im Potsdamer Landtag und Bundesvorsitzende der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft, Dieter Dombrowski.
"Weil Gerichte und auch Behörden sich geweigert haben, die näheren Umstände einer Einweisung in ein Kinderheim in der DDR zu prüfen, sondern sie haben einfach die Akten eins zu eins übernommen, als wäre das vor fünf Jahren hier in Deutschland geschehen."
Roland Herrmann ist verbittert, er sieht dahinter bis heute ein System am Werk.
Roland Herrmann ist verbittert, er sieht dahinter bis heute ein System am Werk.
"Das Land Brandenburg ist ziemlich rot zersetzt, sage ich mal, von früher die ganzen Leute, denn die Richter- und Staatsanwaltschaft, die konnte ja nicht ausgetauscht werden, also im Prinzip leben wir noch in der alten DDR. Und da ist es sehr schwer, dass man dort Anerkennung findet."
Das weist Justizminister Stefan Ludwig von der Linken zurück.
"Die Strafrichter, die an solchen Dingen beteiligt waren in der DDR, sind in Brandenburg nicht im Dienst, wie in allen anderen Ost-Ländern meines Wissens auch nicht. Und deswegen kann ich verstehen, dass aus dem jahrzehntelangen Schmerz möglicherweise solche Gleichnisse gezogen werden. Ich habe aber keine Anhaltspunkte dafür, dass man das so auflösen könnte, sondern ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine andere Situation im Bundesgesetz brauchen."
Bislang muss nämlich jeder Betroffene einzeln vor Gericht ziehen, alles Leid noch einmal durchleben, Unterlagen beibringen, Zeugen organisieren, um zu beweisen, dass ihm Unrecht geschehen ist.
Stefan Ludwig: "Und es gibt eben nicht die – wie in anderen Gesetzen – grundsätzliche Annahme, dass, wer nachweisen kann, dass er Insasse einer solchen Einrichtung war, dass da grundsätzlich anzunehmen ist, dass er wegen dieser Menschenrechtsverletzungen jedenfalls einen Schaden hat und jetzt geht es nur noch darum, wie groß der ist und wie man ihm heute noch helfen kann. Da die Gesetzeslage umzudrehen ist Ziel von Bundesländern. Da gibt es einen breiten Konsens zwischen vielen Bundesländern, dass man etwas unternehmen muss. Und ich gehe davon aus, dass wir in der kommenden Legislatur auch den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung davon überzeugen können, spät genug ist es."
Zumal die Antragsfrist nach dem Bundesrehabilitationsgesetz für die Opfer der DDR 2019 auslaufen soll. Der Verein Kindergefängnis Bad Freienwalde fordert von der Bundesregierung, die Frist zu verlängern. Außerdem soll Bad Freienwalde mit dem Jugendwerkhof Torgau gleich gestellt werden: Der geschlossene Jugendwerkhof in Sachsen war eine Disziplinareinrichtung im System der Spezialheime der Jugendhilfe in der DDR. 2004 ist das Kammergericht Berlin zu dem Schluss gekommen, dass die Einlieferung nach Torgau grundsätzlich rechtsstaatswidrig war.
Roland Hermann: "Wir waren in ein Gefängnis eingesperrt. Dadurch besteht die gleiche Rehabilitierungspflicht. Denn wir wurden ja genauso behandelt wie die Leute in Torgau da drinne."
Zur gleichen Zeit, als Roland Herrmann in Bad Freienwalde einsaß, musste auch Norda Krauel dort in einer Baracke im Hof für den VEB Leuchtenbau in Eberswalde Lampenfassungen zusammenschrauben. Norda Krauel ist bislang die einzige, die es geschafft hat, vor einem Brandenburger Gericht eine Rehabilitierung zu erkämpfen. Dafür musste sie allerdings bis vors Bundeverfassungsgericht in Karlsruhe ziehen.
Nach einer Jahre langen Odyssee durch die Instanzen hat sie nun Recht bekommen: Ihre Inhaftierung in Bad Freienwalde war Unrecht, das Oberlandesgericht in Brandenburg hat Norda Krauel rehabilitiert. Ist sie nun zufrieden?
"Nein, ich bin absolut nicht zufrieden. Ich bin absolut nicht zufrieden! Sie sind nicht darauf eingegangen, dass es ein uraltes Gefängnis war. Sie sind nicht darauf eingegangen, dass es unmenschlich ist, Kinder in Gefängniszellen einzusperren, die mit einem Riesenschlüssel abgeschlossen wird, der noch von 1879 besteht. Die sind auf nichts eingegangen, gar nichts."
Menschenrechtsverletzungen im Kindergefängnis
Unrecht war die Einweisung nach Ansicht des OLG nämlich nur, weil Nordas Mutter Monate lang nicht wusste, wo ihre damals 16 Jahre alte Tochter abgeblieben war. Formalien nennt Krauel das, Bad Freienwalde ist für sie Folter gewesen. Es gab natürlich auch gut geführte Kinderheime in der DDR, aber…
"…die meisten Werkhöfe und die meisten Durchgangsheime boten solche Bedingungen, die man aus heutiger Sicht als menschenrechtswidrig betrachten muss."
…erklärt Brandenburgs Aufarbeitungsbeauftragte Ulrike Poppe. Norda Krauel hat bis heute Albträume, weil eine Aufseherin sie mit dem Kopf in den Toiletteneimer zwang. Da war das schwangere Mädchen, das Selbstmord beging, oder Nordas eiternder Weisheitszahn.
"Man hat im Flur so einen alten Oma-Holzstuhl – ich weiß nicht, ob man sich das noch vorstellen kann – mit sonen breiten Lehnen hingestellt. Auf den durfte ich mich dann draufsetzen und meine Gedanken waren ja noch: Da kommt jetzt jemand und guckt sich das mal an. Aber so schnell konnte ich gar nicht gucken, war ich wiederum an der Stuhllehne an den Händen gefesselt und die Füße und ich habe dagesessen und keine Spritze bekommen, nichts, und man hat ... also man hat mir auf alle Fälle definitiv den Weisheitszahn gezogen."
Das Schlimmste aber war der seelische Schmerz, die unmenschliche Kälte, die Demütigungen, der Mangel an Mitgefühl. Ein Lichtblick war nur ein kleiner, vierjährige Junge, für Norda eine Insel der Zärtlichkeit.
Das Schlimmste aber war der seelische Schmerz, die unmenschliche Kälte, die Demütigungen, der Mangel an Mitgefühl. Ein Lichtblick war nur ein kleiner, vierjährige Junge, für Norda eine Insel der Zärtlichkeit.
Norda Krauel: "Und eines Tages, da steht der so vor mir und macht die Händchen so: Hochheben. Der war so dünn und so klein und so zart. Und da sagt der kleine Kerl zu mir, konnte er plötzlich reden, da sagt der: ´Stimmt’s? Du kannst auch meine Mutti sein, oder?` Da habe ich dieses Bündel Kind auf dem Arm gehabt und hab natürlich gesagt: ´Klar, ich kann auch deine Mutti sein`."
Nach einigen Monaten in Bad Freienwalde wurde Norda Krauel ohne Vorwarnung in den Jugendwerkhof Burg verlegt. Es war das letzte Mal, dass sie den Kleinen gesehen hat.
"Und als ich dann nach Burg verfrachtet wurde, stand er auch oben an seinem Fenster, war ja auch alles vergittert. Und da höre ich heute auch noch die Stimme, wie er schreit: ´Nehmt mir nicht meine Mutti weg! Nehmt mir nicht meine Mutti weg, Mutti, nehmt mir nicht meine Mutti weg!` Der hat so was von geschrien. Und ich konnte nicht mal winken, ihn nicht drücken, keinen Kuss geben, nichts. Und das belastet mich heute noch so. Ich fühle mich so, als wenn ich ihn im Stich gelassen habe, und da hat auch jahrelang Therapie auch nichts genutzt, also dass ich ihn im Stich gelassen habe, das sitzt in mir drinne."
Die Betroffenen leiden bis heute
Und nicht nur das. Auch die nach außen hin unbeugsame, selbstbewusste Norda Krauel ist von den so genannten Erziehungsmaßnahmen schwer beschädigt worden. Sie konnte keinen Schulabschluss machen und ist nach Jahren als Hilfsarbeiterin heute erwerbsunfähig.
"Bei mir ist enorme Angst, mich in die Öffentlichkeit zu begeben, weil, ich möchte immer gerne den Rücken frei haben. Es fängt mich niemand von der Straße weg und ich werde auch nie wieder in meinem Leben irgendwo verschwinden. Dafür ist meine Klappe viel zu laut. Aber diese Angst, dass das noch mal passieren könnte, ist bei mir vorhanden."
Schlaflosigkeit, Depressionen: Norda Krauel kann nicht reisen, ihre Träume von Paris und New York hängen darum nur als Poster an der Wand ihrer Wohnung in Fürstenwalde. All das hätte sie den Richtern gern erzählt, doch dazu geben die ihr in all den Jahren nie eine Gelegenheit.
"Man hat mir eine Anhörung verweigert. Ich wäre gerne angehört worden. Ich habe das mehrfach beantragt. Nein, ich durfte nicht aussagen."
Doch die ehemaligen Insassen von Bad Freienwalde wollen mehr als eine kleine Opferrente. Sie wollen gehört werden. Damit das Geschehene nicht weiter als damals halt übliche Erziehungsmaßnahmen verharmlost wird.
"Und solange wie unsere Erlebnisse nicht aufgearbeitet werden, nicht öffentlich anerkannt werden, kann das, was in den heutigen Kinderheimen Grauenvolles passiert – sexueller Missbrauch, eingesperrt, isoliert werden, unter Medikamente gesetzt werden – überhaupt nicht geahndet werden."
Am Polizeirevier in Bad Freienwalde erinnert fast 30 Jahre nach der Wende nun immerhin eine Informationstafel an das ehemalige Kindergefängnis. Am 9. November will der Verein der Betroffenen einen Gedenkstein dort aufstellen. Noch steht allerdings die Finanzierung nicht. Das Interesse an Aufklärung sei in der Stadt eben nicht besonders ausgeprägt, meint Roland Herrmann.
"Größtenteils wollen die Leute das gar nicht wahrhaben. Die verdrängen dieses Problem. Der Dreck musste doch weg von der Straße. Und da liegt immer noch eine Glocke des Schweigens darüber."