Leb wohl, Deutschland!
Das Deutsch-Russische Museum in Karlshorst zeigt Hinterlassenschaften einer untergegangenen Welt: Vor 20 Jahren zogen die sowjetischen Truppen aus Deutschland ab. Sie hinterließen geheime Bunker, verwaiste Flugplätze und leere Wohnblöcke. Die Ausstellung in Berlin-Karlshorst macht die Spuren der Vergangenheit sichtbar.
Gleich am Eingang der Ausstellung: eine ganze Wand voll glänzender, roter Schilder. Darauf: goldfarbene Sowjetsterne und kyrillische Großbuchstaben: "Offiziersmesse", "Soldaten-Geschäft", "Bibliothek". Einige Schritte weiter: ein Plakat "Ruhm der Sowjetarmee". Und eine Wandtafel mit einer Kalaschnikow - samt aufgesetztem Bajonett.
Plötzlich schaut mir ein Rotarmist in die Augen.
Der Soldat blickt von einem metergroßen Schwarzweiß-Foto herab - mit kurz geschorenen Haaren und freiem Oberkörper. Er macht, mit seiner Kompanie, auf einem Kasernenhof Liegestütze. Ein Ausbilder steht daneben, mit verschränkten Armen.
Ja, genauso war' s: "Die armen Schweine!", so redeten wir damals, in der DDR, über die Besatzer. Meistens waren sie hinter hohen Garnisonsmauern versteckt. Doch manchmal marschierten sie heraus: Eine Abteilung junger, schlanker Wehrpflichtiger, fast kahl geschoren, oft auch im Dauerlauf und mit nackter Brust - sogar im Winter.
Jörg Morré: "Die russischen Truppen, sowjetischen Truppen, waren sehr viel mit Militärtransportern, mit Lastwagen auf den Straßen der DDR unterwegs. Und es sind relativ viele Unfälle passiert. Also solche Geschichten werden erzählt. Die Großmanöver, die dann gerne mal zwei oder drei Wochen lang ganze Landstriche überzogen und überall waren Soldaten. Natürlich ist da auch mal ne Granate daneben gegangen. Das hat dann auch relativ lange gedauert, bis man dann Kontakt aufnehmen konnte zur Garnison und sagen konnte: Hört bitte auf zu schießen, ihr schießt hier auf einen Schweinestall!"
Souvenirs mit Soldaten-Helden
Jörg Morré, der Direktor des Deutsch-Russischen Museums, hat beim Sammeln der Fundstücke auch Geschichten von Ostdeutschen gesammelt. Was der Russland-Experte erzählt, erinnert mich an meine Schulzeit. Etwa an meinen Klassenkameraden Sven. Über den wurde geflüstert, sein Vater sei - tatsächlich - von einer "Russenkolonne" überfahren worden.
Eine weitere Erinnerung: Die Explosion eines Munitionsdepots nahe meiner Heimatstadt Schwerin. Tagelang donnerte es irgendwo am Horizont. Und noch eine über 30 Jahre alte Szene taucht auf: Eine Straßensperre, bei Nacht. Uniformierte leuchten mit Taschenlampen in das Auto unserer Familie - auf der Suche nach desertierten russischen Soldaten. Mit denen wird kurzer Prozess gemacht, wussten wir als Kinder schon.
"Dann die Geschichten von den LPG-Vorsitzenden, die mit den örtlichen Kommandierenden dann eben Wodka trinken mussten, weil dann irgendwelche Lieferungen mit der Kaserne ausgehandelt wurden -und natürlich stockbesoffen wieder nach Hause kamen. Und dann kommen sie eben ins Erzählen."
In den Vitrinen der Sowjet-Sammlung: jede Menge Urkunden, Wimpel, Pokale und Gips-Souvenirs mit Soldaten-Helden drauf.
Ich kenne das alles von früher. Im Russischunterricht sangen wir Sowjetlieder und lernten, wie uns die "ruhmreiche Rote Armee" vom Faschismus befreit hat. Kontakt zu Soldaten hatten wir nicht. Bis auf wenige Ausnahmen: In einigen Kasernen gab es ein sogenanntes Russen-Magazin, von "Magasin" - Geschäft.
In meiner Heimatstadt war das eine kleiner dunkler Raum mit einem dicken usbekischen Teppich; hier konnte man mit etwas Glück manchmal Bananen oder Apfelsinen kaufen. Der Laden war eigentlich für Sowjet-Offiziere. Aber DDR-Bürger, die die versteckte Adresse kannten, durften auch hinein. Ein anderer Kontakt kam zustande, wenn wir Kinder bei Nachbarn "Altstoffe" sammelten: leere Gläser und Zeitungen, die wir für ein paar Pfennige zum Recycling brachten.
Die Fenster mit Prawda-Zeitung beklebt
Wir klingelten gern bei den Offiziersfamilien, die gleich gegenüber wohnten. Sie lebten in normalen Mietshäusern, allerdings ohne Gardinen, die Fenster waren mit einer Prawda-Zeitung zugeklebt. Aber die "Russen" waren immer nett zu uns; und es hieß, sie seien gern in der DDR.
"Ostdeutschland war deswegen beliebt, weil der Lebensstandard relativ hoch war. Da konnten natürlich vor allem die Offiziere und ihre Familien profitieren. Es gab eben auch einen Sold, einen zusätzlichen Sold, in Mark der DDR - und davon konnten nur alle profitieren."
Museums-Direktor Jörg Morré hat neben Propaganda- und Erinnerungsstücken auch anschauliche Exponate zusammen getragen vom Abzug der Sowjetarmee 1991 bis 94. Etwa ein abgeschraubtes Zugschild. Oder eine Armee-Zeitung mit der Schlagzeile "Leb wohl Deutschland!" Fundstücke vom einzigartigen, friedlichen Rückzug einer gewaltigen Streitmacht. Einer Armee, die aller Alltagstristesse zum Trotz sich bis zum Ende als glorreiche Siegerarmee inszenierte.
"Da lebt für mich ganz viel auch alte Sowjetunion drin in der ganzen Machart. Es ist so etwas wie die vergangene Herrlichkeit."