DDR-Geschichtsbilder: Kein Ende der Aufarbeitung

Von Karl Wilhelm Fricke |
Sie ist noch lange nicht beendet - die historische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit - wie eigentlich sollte es anders sein? Seit der friedlichen Revolution der DDR und ihrem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes sind erst rund anderthalb Jahrzehnte vergangen - eine historisch kurze Zeit. Der Zusammenbruch der ersten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert liegt über sechs Jahrzehnte zurück - doch bis heute treibt die NS-Vergangenheit viele Menschen in unserem Land um. Warum sollte die historische Erblast der zweiten Diktatur - die nicht zwölf, sondern vierzig Jahre gedauert hat - in kürzerer Frist abzutragen sein?
Die unlängst vorgelegten Empfehlungen der nach dem Potsdamer Historiker Martin Sabrow benannten Experten-Kommission zur Schaffung eines Geschichtsverbunds "Aufarbeitung der SED-Diktatur" bestätigen das auf ihre Weise. Allerdings erinnern sie auch daran, wie weit Zeitgeschichtsforschung und Politik von einem konsensualen Umgang mit Ulbrichts und Honeckers Hinterlassenschaft entfernt sind. Der öffentliche Diskurs dauert an. Nicht einmal die Kommission selber war sich einig. Freya Klier gab ein Gegen-Votum ab. Im Ergebnis schrumpfen die Experten-Empfehlungen auf das Verdienst zusammen, die geschichtspolitische Kontroverse aufs Neue entfacht zu haben – aufs Neue insofern, als vieles schon einmal in den Beratungen der beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zur Sprache gekommen war.

Gefordert ist ein gesellschaftlicher Konsens im Umgang mit der DDR-Vergangenheit nicht zuletzt deshalb, weil restaurative Kräfte der Linkspartei/PDS unverhohlen auf Retuschen an der historischen Wahrheit über die DDR bedacht sind. Exemplarisch dafür war die provokative These Hans Modrows, des letzten der SED zugehörigen DDR-Ministerpräsidenten, wonach die Verantwortung für die Toten an Mauer und Stacheldraht in der Zeit der Teilung der Politik in beiden deutschen Staaten anzulasten sei. Aus dem Geschichtsbewusstsein soll verdrängt werden, dass der Staat der SED im Kern ein Unrechtsstaat war.

Noch drastischer aktualisieren Ex-Obristen und Generale der DDR-Staatssicherheit das Problem. Mielkes Altkader melden sich immer vehementer zu Wort, sie suchen geradezu den politischen Eklat. Wohl ausgestattet mit Renten vom früheren Klassenfeind und wissend, dass sie kein Risiko eingehen, provozieren sie gewollt Widerspruch, indem sie in Büchern und Pamphleten ihre Legenden und Unwahrheiten über die Stasi verbreiten oder wie neulich in Berlin-Hohenschönhausen öffentliche Diskussionen durch polemisch zugespitzte Wortmeldungen dominieren und stören.

Es wäre politisch leichtfertig, solche Symptome zu bagatellisieren. Sie finden zunehmend ihren Niederschlag in den Medien, zumal im Fernsehen, wo ehemalige DDR-Tschekisten ein umso größeres Echo finden, je höher einst ihr Dienstrang war. Indes ist zu fragen, wo sie den kläglichen Mut her nehmen, mit dem sie sich jenseits von Scham, Selbstkritik und Schuldgefühl artikulieren. Die Antwort ist einfach. Nach allen Enthüllungen über die Staatssicherheit seit Öffnung der Akten sind ihre einstigen Funktionsträger zur geschichtspolitischen Gegenoffensive angetreten. Sie beschweigen, verharmlosen oder leugnen das Unrecht, das sie zu verantworten haben. Zwar ist es nicht ganz einfach, die Arbeit der Staatssicherheit zur humanitären Erfolgsgeschichte umzuschreiben. Sie weist zu viele verbrecherische Züge auf, sie hat zu viele Opfer gefordert, aber die Ruheständler aus dem MfS versuchen sich gleichwohl darin, sie geben die Biedermänner, die sich stets an Recht und Gesetz gehalten haben wollen. Dabei hat die Staatssicherheit – immer Schild und Schwert der Partei - nachweislich nicht einmal die Gesetze des eigenen Staates eingehalten, wo ihre Missachtung der herrschenden Macht zu nützen schien.

Unter diesem Aspekt ist es, nun ja, kaum verwunderlich, wenn führende Leute der Linkspartei/PDS die nötige Distanz zu den Alt-Tschekisten vermissen lassen. Im Übrigen lässt sich der Alltag in der DDR gewiss nicht auf Justizunrecht und Stasi-Terror reduzieren, aber ohne sie wäre der Alltag in der Diktatur auch nicht gewesen, wie er war. Die Erkenntnis ist trivial. In dem Papier der Sabrow-Kommission wird sie auch gar nicht bestritten – allerdings ein wenig verschleiert. Sein Text wird weiter zu diskutieren sein, eine konkrete Handlungsempfehlung für die Politik ist er nicht.


Karl Wilhelm Fricke, geboren 1929 in Hoym (Anhalt), floh nach dem Abitur 1949 aus der SBZ nach Westdeutschland. Bis 1953 studierte er an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven und an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und war im Westen der Stadt als freiberuflicher Journalist tätig. 1955 wurde Fricke von Stasi-Agenten aus West-Berlin entführt und 1956 in der DDR wegen 'Kriegshetze' zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Er war bis 1959 in Brandenburg-Görden bzw. in Bautzen inhaftiert. Anschließend arbeitete er als Journalist in Hamburg, von 1970 bis1994 als Leitender Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, seit 1994 wieder freiberuflich als Publizist. Fricke war Sachverständigen-Mitglied beider Enquetekommissionen zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" sowie zur "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit". 1996 wurde er Ehrendoktor der Freien Universität Berlin im Fachbereich Politische Wissenschaft. Seine Buchveröffentlichungen: "Politik und Justiz in der DDR" (1979), "Die DDR-Staatssicherheit" (1982), "Opposition und Widerstand in der DDR" (1984), "MfS intern" (1991), "Akten-Einsicht" (1995), (gemeinsam mit Roger Engelmann), "Konzentrierte Schläge" (1998), "Der Wahrheit verpflichtet" (2000); zusammen mit Silke Klewin: "Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle 1956 bis 1989" (Verlag Gustav Kiepenheuer).