DDR-Propaganda machte aus Fluchthelfern CIA-Agenten

Detlef Girrmann im Gespräch mit Marcus Pindur · 13.08.2010
Der ehemalige Westberliner Fluchthelfer Detlef Girrmann geht 49 Jahre nach dem Mauerbau davon aus, dass die Staatssicherheit der DDR ihn und seine Gruppe tatsächlich für Mitarbeiter der CIA hielt.
Marcus Pindur: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten – so der damalige Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht zwei Monate vor dem Mauerbau in Berlin. Sie wurde also doch gebaut, in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961, heute vor 49 Jahren. Und hinter Mauer und Stacheldraht mussten viele ihren Traum von einem freien Leben begraben. Nicht alle nahmen das tatenlos hin. Viele Studenten der Freien Universität, die im Westen Berlins lag, wohnten im Osten und konnten auf einmal ihr Studium nicht fortsetzen. Und da traten einige ihrer Kommilitonen im Westen Berlins auf den Plan, sie gründeten eine Fluchthilfeorganisation. Und der Schriftsteller Uwe Johnson, selber aus der DDR gekommen – 1959 war das –, er interviewte 1963, also zwei Jahre nach dem Mauerbau, einige dieser Fluchthelfer. Die Tonbänder waren jahrzehntelang verschollen. Hören Sie jetzt einen kurzen Ausschnitt daraus:

Uwe Johnson: Wenn Sie Westdeutsche oder Westberliner ansprechen, auf diese Arbeit, ob sie das wohl machen würden, dann haben sie gedacht, ich habe von dem den Eindruck, er ist zuverlässig, den Eindruck, er hat ein gutes Gedächtnis?

Detlef Girrmann: Das stimmt, wir haben damals also gar nicht die technische Möglichkeit gehabt, nun groß auszuwählen.

Johnson: Zum Beispiel, wir haben doch jetzt miteinander gesprochen, hätten Sie mich genommen?

Pindur: Das rauscht noch beträchtlich – eine alte Tonbandaufnahme. Und bei uns im Studio ist jetzt derjenige, der damals von Uwe Johnson befragt wurde, Detlef Girrmann. Guten Morgen, Herr Girrmann!

Detlef Girrmann: Guten Morgen!

Pindur: Das Protokoll dieses Interviews ist jetzt bei Suhrkamp als Buch erschienen. Können Sie sich denn noch an dieses Gespräch erinnern mit Uwe Johnson?

Girrmann: Sehr dunkel. Es war, glaube ich, im Dachgeschoss, ziemlich abgeschottet, ein Riesenholztisch, darauf ein Uher-Tonbandgerät und von mir aus gesehen hinter dem Tisch saß Uwe Johnson. Er wirkte, wie man sich einen Mecklenburger vorstellt: Sachlich und bis in das Detail wollte er genau wissen, was wir gemacht haben und wann wir und wie. Jedenfalls habe ich seine Präzision bewundert.

Pindur: Sie waren Fluchthelfer natürlich nicht im Hauptberuf, wenn ich das mal so sagen darf, Sie hatten ja auch noch einen Beruf an der damaligen Freien Universität Berlin.

Girrmann: Im Studentenwerk, ja.

Pindur: Und der hat Sie dazu gebracht aber, Fluchthelfer zu werden?

Girrmann: Ja, weil wir – mein Freund Dieter Thieme und ich, wir haben die Grenzgängerstudenten, so nannten wir sie damals, betreut, die in Westberlin studierten und im Osten wohnten, auch im Grenzgebiet, nicht nur in Ostberlin, und die bekamen von uns dann Taschengeld und Büchergeld und Fahrgeld, was sie ja mit ihrem Ostgeld nicht bezahlen konnten. Und dadurch haben wir sie auch ein bisschen kennengelernt, einige. Und vor allen Dingen fühlten wir uns für die Studenten verantwortlich.

Pindur: Sie fühlten sich verantwortlich, und diese Studenten konnten auf einmal ja nicht mehr – nach dem Mauerbau – nicht mehr studieren an der FU. Wie hat man sich das jetzt konkret vorzustellen? Sie haben zunächst mal die Leute mit gefälschten Pässen rausgeschleust, ist das richtig?

Girrmann: Nein! Also man muss sich das erst mal so vorstellen, dass wir erst mal hilflos waren. Und dann hörten wir … Ein Kollege von uns kam und er hatte seine Freundin mit einem Westberliner Ausweis rübergeholt, auf Ähnlichkeit, wie wir zu sagen pflegten. Da fing es bei uns an zu ticken, man müsste doch unsere Studiker rüberholen können. Und dann haben wir die Vorbereitungen getroffen. Dann haben wir uns aus dem Immatrikulationsbüro die Immatrikulationsakten geholt mit den Bildern und haben geguckt, haben gesehen, dass wir anhand der Bilder irgendwo ähnlich aussehende Westberliner fanden. Bloß das war so aufwendig, dass wir meiner Erinnerung nach nur einen rübergeholt haben, denn nach sieben Tagen, glaube ich, durften die Westberliner nicht mehr rüber. Dann konnten nur noch Westdeutsche und Ausländer rüber. Und dann mussten wir umstellen. Und dann bot sich das an mit den ausländischen Pässen, das war das wesentlich Einfachere.

Pindur: Wie viele Leute haben Sie denn rausgeschleust auf diese Art und Weise insgesamt, können Sie das sagen?

Girrmann: Ich weiß nicht, Dieter Thieme hat es aufgeschrieben. Ich schätze, mit den Pässen, das waren vielleicht 500 oder 600.

Pindur: Dann sind Sie auf den Gedanken verfallen, dann haben Sie die Leute teilweise über die Kanalisation rausgeholt, habe ich gesehen …

Girrmann: Schon – es lief parallel.

Pindur: Das lief parallel …

Girrmann: Ja.

Pindur: Dann gab es die Tour über Skandinavien – das war ja alles dann auch relativ riskant und fiel dann ja auch irgendwann auf, Sie wurden von einem Spitzel auch verraten.

Girrmann: Ja.

Pindur: Hatten Sie nicht Angst? In den 50er-Jahren wurden ja immer wieder auch missliebige Leute von der Stasi in den Osten Berlins entführt oder teilweise einfach auch umgebracht.

Girrmann: Ja, haben wir, aber die Arbeit musste gemacht werden nach unserer Meinung. Und ich weiß auch bis heute noch nicht, wir haben also alle drei geknobelt – Bodo Köhler und Dieter Thieme, die ja leider nicht mehr leben, und ich –, warum sie eigentlich mit uns nichts angestellt haben, die Stasi. Ob die geglaubt haben, dass hinter uns ein CIA-Wagen fährt und uns schützt oder was, weiß ich nicht, denn ich glaube, der Osten hat ehrlich geglaubt, dass wir im Auftrage der CIA arbeiten, dass es nicht nur Propaganda war. Die Leute wie die Propagandisten werden ja oft auch Opfer ihrer eigenen Propaganda, und dass sie das nachher selber glauben, was sie sich ausdenken.

Pindur: Kommen wir zum Schluss noch mal zu den Tonbändern zurück. Uwe Johnson wollte ursprünglich ein Buch daraus machen, hat sich dann aber dagegen entschieden und hat dann Ihnen das Tonband mit dem Interview zurückgeschickt.

Girrmann: Es ist dagegen entschieden worden.

Pindur: Sein Verlag wollte nicht.

Girrmann: Der Verlag wollte nicht, genau. Ich vermute, weil er ja auch Ostschriftsteller verlegt hat, da wollte Suhrkamp keinen Ärger haben, wenn er da so ein Antibuch veröffentlicht.

Pindur: Ganz zum Schluss noch eine Frage zu Uwe Johnson: Wie haben Sie ihn empfunden, war da eine große Distanz zwischen dem doch damals schon recht bekannten Schriftsteller und Ihnen zu spüren, hat er versucht, die zu überwinden, ist es ihm gelungen?

Girrmann: Also eine Distanz war nicht da. Es ist die allgemeine Distanz eines Norddeutschen zu seiner Umwelt, aber eine spezielle Distanz überhaupt nicht, sondern im Gegenteil, er war uns sehr dankbar, dass wir seine Frau rübergeholt haben und dass wir ihm eine Anregung gegeben haben für ein neues Buch, was ja nun leider nichts geworden ist. Nein, also er war zurückhaltend, intensiv fragend, aber keine Distanz.

Pindur: Herr Girrmann, vielen Dank für das Gespräch!

Girrmann: Gerne geschehen!

Pindur: Bei uns im Studio Detlef Girrmann – er und einige andere Freunde haben kurz nach dem Mauerbau mehreren Hundert Menschen zur Flucht verholfen. Wie das geschehen ist, das können Sie in den Interviews mit Uwe Johnson nachlesen unter dem Titel "Ich wollte keine Frage ausgelassen haben" - Gespräche mit Fluchthelfern, bei Suhrkamp erschienen.
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