Uwe Kolbe: "Die Lüge"
S. Fischer, Frankfurt am Main 2014
383 Seiten, 21,99 Euro
Leben in einem Kokon des Ungesagten
Uwe Kolbe schildert in seinem Roman mit beklemmender Genauigkeit die Atmosphäre in der späten DDR. In der Geschichte verarbeitet er erstmals das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, der verdeckt als Führungs-IM der Stasi tätig war.
Uwe Kolbe musste sich etwas von der Seele schreiben. Eine Erfahrung, die seit Beginn seiner literarischen Karriere auf ihm lastete, gleichzeitig aber untrennbar mit ihr verbunden war und deshalb lange Zeit diffus blieb. Es geht um seine privilegierte Stellung in der Prenzlauer-Berg-Szene, zu deren berühmtesten Repräsentanten er seit seinem Debüt als Lyriker in der Zeitschrift "Sinn und Form" 1976 gehört hatte.
Während Uwe Kolbe seit 1985 Publikationsverbot hatte, operierte sein Vater verdeckt als Führungs-IM der Stasi. Erst jetzt scheint der Moment für eine Aufarbeitung dieser schwierigen Verbindung gekommen zu sein; und es ist bemerkenswert, dass Kolbe dafür ein anderes Genre wählt und mit "Die Lüge" seinen ersten Roman vorlegt.
Die Verlagerung der Geschehnisse in die Musik erzeugt eine gewisse Verfremdung: Hadubrand Einzweck, genannt Harry, reüssiert mit knapp 20 zum ersten Mal als Komponist, wird Meisterschüler, zeugt Kinder, heiratet mehrfach und steigt im Laufe der Jahre zu einer Größe des Underground auf.
"Die Mauer am Horizont erzeugte Dringlichkeit", erklärt der Ich-Erzähler, und das Wissen, auf der richtigen Seite zu stehen, habe das Wohlbefinden gesteigert. Parallel zu dieser eigentümlichen Terrarium-Existenz Harrys rollt Kolbe die Geschichte der Vaterfigur auf. Hinrich Einzweck siedelte aus Überzeugung in die DDR über und sieht in den Prinzipien der Stasi seine Lebensaufgabe, die er mit irritierender Begeisterung erfüllt: Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Regina spioniert er die gesamte Theaterszene Mecklenburgs aus, ideologische Schützenhilfe holt er sich regelmäßig bei seiner Geliebten Beate, auch sonst zeichnet ihn erotische Unersättlichkeit aus.
Diese Eigenschaft teilt er mit seinem ältesten Sohn. Einen Rekrutierungsversuch durch die Stasi weist Harry schon als Abiturient zurück, aber bestimmten Zusammenhängen geht er lieber nicht auf den Grund.
Atmosphäre in der späten DDR
Mit beklemmender Genauigkeit schildert Uwe Kolbe die Atmosphäre in der späten DDR. Bei allen Aktivitäten herrscht eine Art Bewusstlosigkeit, auch die übermäßige Wollust und die ausufernden Trinkgelage scheinen nur der Ausdruck einer allgemeinen Lähmung. Sein Ich-Erzähler geht schonungslos mit sich ins Gericht: Eitel habe er seinen Ruhm genossen.
"Ich lebte in einem Kokon des Ungesagten. (…) In unseren engen, versoffenen Zusammenhängen (…) herrschte Mangel an Genauigkeit."
Das Ganze mündet in einen bizarren Triumph über den Vater. Hinter zahlreichen Figuren verbergen sich tatsächlich existierende Personen: Der Förderer des Helden, der unantastbare Komponist Sebastian Kreisler, ähnelt Franz Fühmann. Auch Kolbes Freunde Bernd Wagner und Lothar Trolle, mit denen er die Zeitschrift "Mikado"herausgab, sind erkennbar, Wolf Biermann taucht hier als Riebmann auf.
An manchen Stellen entwickelt die Sprache ein befremdliches Pathos, dennoch ist "Die Lüge" fesselnd. Kolbe vermittelt, wie ein Überwachungssystem bis in die intimsten Beziehungen hinein wirkte, und was es hieß, in der Windstille der Geschichte zu verharren.