Susanne Kaiser ist Literaturwissenschaftlerin, Journalistin, Buchautorin und politische Beraterin. Zuletzt erschien von ihr: "Politische Männlichkeit – Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen" (edition suhrkamp 2020).
Gewalt gegen Frauen ist kein Importprodukt
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Das brutale Verbrechen zweier Brüder an ihrer aus Afghanistan geflüchteten Schwester hat abermals eine Debatte über "Ehrenmorde" und gescheiterte Integration entfacht. Dabei gerät das eigentliche Problem aus dem Blick, meint die Journalistin Susanne Kaiser.
Sie war dem Krieg und dem Terror in Afghanistan entkommen, hatte die Flucht nach Deutschland überlebt und sich mit ihren zwei Kindern ein Leben in der relativen Sicherheit Berlins aufgebaut. Ihren beiden Brüdern jedoch entkam Maryam nicht: Vor vier Wochen sollen die beiden jungen Männer ihre 34-jährige Schwester brutal ermordet haben. Laut Staatsanwaltschaft "aus gekränktem Ehrgefühl".
Das eigentliche Problem gerät aus dem Blick
Ein furchtbares Verbrechen, das ein wichtiger Anlass wäre, die überfällige gesellschaftliche Debatte über Gewalt gegen Frauen anzugehen. Stattdessen jedoch passiert, was immer passiert, wenn eine solche Tat geschieht und die Täter eine Migrationsbiografie aus bestimmten Ländern aufweisen: Es entbrennt eine Debatte über "Ehrenmorde", archaische Frauenbilder und gescheiterte Integration.
Rechte instrumentalisieren den Fall, um gegen Muslim:innen zu hetzen. Linke kontern mit dem Bemühen, ein Abdriften der Diskussion ins Flüchtlings- und Islambashing zu verhindern.
Das eigentliche Problem gerät dabei aus dem Blick: Gewalt gegen Frauen hat in allen Ländern auf der Welt ein so erschreckendes Ausmaß, dass die Vereinten Nationen von einer "Epidemie" sprechen. In Deutschland erleben Frauen alle viereinhalb Minuten Gewalt durch ihre Partner oder Expartner, so zeigt die Statistik des BKA für 2019. Jeden Tag versucht ein Mann, seine Frau oder Exfreundin zu töten, und öfter als jeden dritten Tag gelingt es ihm.
Gewalt gegen Frauen erscheint als importiert
Tatsächlich zeigt die Kriminalstatistik, dass Personen mit Migrationshintergrund aus der Türkei, Syrien, Polen, Afghanistan, Italien und Rumänien bei Gewalt gegen Frauen überrepräsentiert sind. Gleichzeitig sind die meisten Gewalttäter deutsche Staatsangehörige. Was machen wir mit dieser Information?
Der Berliner CDU Landeschef macht daraus: Gewalt gegen Frauen muss wohl importiert sein aus Herkunftsländern mit archaischen Stammesgesellschaften, in denen die Scharia gilt, so sagt er. Und bedient so die rechte Erzählung von der gescheiterten Integration. Seine Schlussfolgerung ist nicht nur rassistisch: "Archaische Stammesgesellschaften" gibt es nirgendwo auf der Welt. Der radikalislamistische Backlash ist ein politisches Phänomen unserer Zeit und viel eher vergleichbar mit dem neuen Fundamentalismus in den USA.
Die Aussage ist auch frauenfeindlich: Sie lagert das eigentliche Problem einfach aus, auf einen anderen Schauplatz. Und setzt der so wichtigen Debatte über das Recht von Frauen, nicht verletzt zu werden und keine Angst haben zu müssen, kurzerhand ein Ende. Als gäbe es Frauenhass und Gewalt hierzulande ursprünglich gar nicht.
Zwischen den Tätern gibt es Gemeinsamkeiten
Genau das ermöglicht es rechten Trollen, die Debatte zu kapern und Minderheitenrechte und Frauenrechte gleichzeitig anzugreifen. Dann aber traut sich niemand mehr, kulturelle Unterschiede überhaupt noch in den Blick zu nehmen - was jedoch wichtig wäre, wenn wir das Problem verstehen wollen. Wenn hinter Frauenmorden kollektive Vorstellungen von Ehre stehen, dann müssen diese Vorstellungen und alle involvierten Personen als Problem erkannt werden. Einfache kulturalistische Entschuldigungen à la "in Afghanistan ist das eben so Tradition" darf es nicht geben - was übrigens selbst rassistisch ist.
Was wir stattdessen aus der Kriminalstatistik zum Täterhintergrund machen könnten: Ob afghanisch oder biodeutsch, zwischen den Tätern gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, das gekränkte Ehrgefühl gehört dazu.
Das Grundmuster für Morde an Frauen ist immer dasselbe: Männer fühlen sich gedemütigt, weil Frauen selbstbestimmt ihre eigenen Entscheidungen treffen. Männer denken, dass Frauen ihnen gehören und dass sie einen Anspruch auf Kontrolle haben, darauf, dass kein anderer Mann Hand an ihren Besitz legt. Solche Männer sind überzeugt davon, Frauen überlegen zu sein, weshalb diese sich unterordnen sollen. Der Begriff "Femizid", also ein Mord an einer Frau, weil sie eine Frau ist, trägt diesen Denkmustern Rechnung.
Der Fall von Maryam wäre ein guter Anlass, über das Patriarchat nachzudenken und darüber, wie und wo Sexismus und Misogynie in unserer Gesellschaft und Kultur immer noch verankert sind - und was wir dagegen tun können.