Arbeitsmarktforscher Sell warnt vor Illusionsblasen
Als verlogen und abgehoben bezeichnet der Arbeitsmarktexperte Stefan Sell die aktuelle politische Debatte über Hartz IV. Er empfiehlt sich stärker Einzelschicksale anzusehen und nicht nur über, sondern mit Betroffenen zu reden.
Die Debatte über Hartz IV geht weiter. Für den Arbeitsmarktforscher Stefan Sell fallen fachliche Argumente und Maßnahmen der Politik stark auseinander. Er wünscht sich, dass auch mehr mit den betroffenen Menschen gesprochen würde, statt über sie. Es seien doch sehr unterschiedliche Menschen und Lebenswege.
Er kritisierte im Deutschlandfunk, das "Verlogene an der Debatte" und warnte vor "Illusionsblasen", wenn man mit solidarischem Grundeinkommen argumentiere wie der Berliner Bürgermeister Michael Müller (SPD) oder gar Hartz IV abschaffen wolle. "Es stellt sich zurzeit auch überhaupt nicht die Frage, Hartz IV abzuschaffen, sondern wenn, eben wie man Hartz IV weiterentwickeln könnte." (gem)
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Seit Monaten brodelt die Debatte um Hartz IV, immer mal wieder werden da Veränderungen angekündigt, viele fordern auch, Hartz IV ganz abzuschaffen und dafür ein solidarisches bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen, während andere über die Einwanderung ins deutsche Sozialsystem wettern. Wir wollen diese Debatte jetzt reflektieren und auch mal einen Blick nach vorn werfen, denn durch die Globalisierung und durch die Digitalisierung stehen ja viel mehr Arbeitsplätze zur Disposition.
Wohin also führt die Hartz-IV-Debatte, wohin sollte sie führen jenseits populistischer Schlagzeilen. Darüber rede ich jetzt mit dem Arbeitsmarktexperten Professor Stefan Sell, er ist Volkswirtschaftler an der Hochschule in Koblenz und Direktor des Instituts für Arbeitsmarktforschung. Schönen guten Morgen!
Stefan Sell: Guten Morgen!
Billerbeck: Sie haben die Debatte um Hartz IV in Interviews und Artikeln gern mit zwei Adjektiven belegt, nämlich mit verlogen und abgehoben. Warum?
Sell: Also weil zum einen, wenn wir das Abgehobene betrachten, wir hier oftmals über Menschen reden, und zwar – das muss man sich, glaube ich, an dieser Stelle klar machen –, wir reden über fast genau sechs Millionen Menschen, die derzeit im Hartz-IV-System sind und von den Leistungen abhängig sind, und das sind ganz, ganz unterschiedliche Menschen, aber wenn Sie sich die Diskussion anschauen, dann läuft auch bei vielen normalen Bürgern so die Gleichung mit Hartz-IV-Empfänger gleich Arbeitslose gleich Langzeitarbeitslose.
Dass aber ganz viele andere Fallkonstellationen auch von den Jobcentern betreut werden und versorgt werden müssen, von der alleinerziehenden Mutter, über den pflegenden Angehörigen, oder in der Mehrzahl sind es Frauen, pflegende Frauen, bis hin zum kleinen Selbstständigen oder anderen, die Arbeiten gehen oder als Aufstocker in dem System sind. Also wir haben ganz unterschiedliche Leute, aber die Diskussion tut so, als gäbe es nur das Problem, dass da Leute sind, die überhaupt nicht arbeiten, also arbeitslos sind oder langzeitarbeitslos sind. Das ist das Abgehobene.
Und das Verlogene an der Debatte ist, dass, so leid es mir tut, aber wenn man mit solidarischem Grundeinkommen argumentiert wie der Berliner Bürgermeister oder gar Hartz IV abschaffen Fragezeichen, dann wird hier den Menschen, vor allem den Betroffenen wird eine Illusionsblase vor die Augen gehalten, weil da geht es bei dem solidarischen Grundeinkommen gar nicht drum, und es stellt sich zurzeit auch überhaupt nicht die Frage, Hartz IV abzuschaffen, sondern wenn, eben wie man Hartz IV weiterentwickeln könnte.
Berechnung der Leistungen
Billerbeck: Hartz IV ist ungerecht, das sagen auch Sie, und Sie haben ja eben beschrieben, was für eine heterogene Gruppe von Menschen das ist, die davon abhängig sind. Wenn man sich allein die Berechnung des Regelsatzes ansieht, der ja offiziell an den unteren 20 Prozent der Einkommen in Deutschland hängt, in der Praxis aber, wie jüngst berichtet wurde, an den unteren 15 Prozent.
Oder denken wir auch nur an die Tatsache, dass aufgrund von Zusatzleistungen in manchen Bundesländern oder manchen Kommunen Vergünstigen, wie zum Beispiel im Nahverkehr, die paradoxe Situation entstehen lassen, dass, wer arbeitet, weniger Geld hat als ein Hartz-IV-Empfänger. Wie könnte es denn gerechter gemacht werden?
Sell: Also Sie hatten ein Beispiel für die zahlreichen Problemstellen im bestehenden Grundsicherungssystem, also Hartz IV, genannt, die Frage der Berechnung der Leistungen. Das ist, glaube ich, ein ganz spannender Punkt. Da gibt es nämlich eine eher rein fachliche oder wissenschaftliche Sicht und eine natürlich politische Sicht. Wenn Sie den Regelsatz nehmen, also die Regelleistung, dann haben wir heute – nehmen wir den einfachsten Fall eines alleinstehenden Hartz-IV-Empfängers –, der hat also eine Regelleistung von 416 Euro im Monat, damit müssen alle laufenden Ausgaben zum Lebensunterhalt abgedeckt werden, und hinzu kommt noch die Kosten der Unterkunft, sofern sie angemessen sind, Jetzt können Sie an diesen beiden Punkten auch ja große Probleme des Systems erklären.
Eigentlich – 416 Euro Existenzminimum – müsste dieser Betrag, wenn man richtig rechnen würde, deutlich höher liegen, nämlich bei 570 Euro im Monat. Wie kommt diese Differenz zustande? Es ist nicht nur das, was Sie gesagt haben, dass man statt den unteren 20 nur die unteren 15 Prozent berücksichtigt bei der alle vier Jahre stattfindenden Neuberechnung, sondern man geht auch hin und macht willkürliche Streichungen. Also man hat dann einen Betrag, und man streicht dann … Sie kennen die Diskussion, zum Beispiel Alkohol- und Nikotinausgaben werden vollkommen rausgenommen.
Aber auch andere Dinge werden einfach rausgerechnet, bis man am Ende zufälligerweise auf diesen Betrag von 416 Euro kommt, der natürlich politisch vorgegeben ist. Warum? Das wissen viele nicht. Würde man jetzt den Hartz-IV-Empfängern tatsächlich die 570 Euro, also mehr Geld auszahlen, dann hätten wir das Problem, nicht nur, dass wir mehr Hartz-IV-Empfänger hätten, nämlich die Leute, die jetzt alle gerade knapp oberhalb von Hartz IV ja ihr Leben fristen müssen, die würden dann ja Anspruch haben auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen.
Politische Gründe für Widerstände
Billerbeck: Und das Ganze wäre noch teurer.
Sell: Das wäre noch teurer, und wir hätten aber vor allem ein ganz anderes Problem: Wir hätten massive Schwierigkeiten im Niedriglohnsektor. Da, wo Millionen Deutsche arbeiten müssen, nämlich zu Löhnen, die eben heute knapp oberhalb ein Einkommen ergeben, was knapp oberhalb von Hartz IV ist, aber wenn Sie das so stark erhöhen würden, würden natürlich viele dieser Leute dann sagen, warum soll ich zu solchen Niedriglöhnen arbeiten. Es würde ein gewaltiger Druck auf den Niedriglohnsektor ausgeübt werden, das ist klar.
Und der dritte Punkt, der ist eigentlich der entscheidende: Sie müssen wissen, wir alle als Bürger dieses Landes profitieren ja im Einkommenssteuerrecht, selbst wenn Sie Millionär sind, vom Grundfreibetrag. Das ist der Betrag, der nicht besteuert werden darf – zurzeit um die 9.000 Euro pro Jahr. Dieser Betrag leitet sich nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1992 ab aus den Hartz-IV-Sätzen. Die gab es damals noch nicht, also aus der Sozialhilfe, hat man gesagt, das Existenzminimum darf nicht besteuert werden, und dann hat man gesagt, dann nehmen wir eben die Regelsätze der Sozialhilfe oder heute Hartz IV.
Würden Sie das also machen, die Erhöhung, hätte der Bundesfinanzminister im zweistelligen Milliardenbereich Steuerausfälle, weil wir alle Bürger davon profitieren würden. Also, wissen Sie, was ich damit sagen will, ist einfach, es gibt eine fachliche Perspektive, die sagt, die Hartz-IV-Leistungen sind zu niedrig, und man müsste die eigentlich anheben, aber ich wollte an diesem Beispiel zeigen, dass es bei den Widerständen dagegen ganz handfeste und gewichtige politische Gründe gibt.
Billerbeck: Herr Professor Sell, ich hätte jetzt etwa noch 20 Fragen, die um die Zukunft eines Grundeinkommens sich gedreht haben, aber die müssen wir dann ein andermal besprechen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.