Mit einer umstrittenen Aufmachung hat die Wochenzeitung "Die Zeit" in ihrer Ausgabe vom 11. Juli 2018 ein "Pro & Contra" zum Thema "Seenotrettung" veröffentlicht. Auf unserer Facebook-Seite haben wir diese Aufmachung kontrovers und satirisch zugespitzt – und diskutiert. Gerne laden wir Sie dazu ein, ins Gespräch einzusteigen:
"Wir brauchen eine neue Sprache!"
08:55 Minuten
Mit einem umstrittenen Beitrag über Seenotrettung hat "Die Zeit" unwillentlich eine Debatte darüber losgetreten, wie Flucht in den Medien diskutiert wird. Die US-Soziologin Saskia Sassen sagt: Unsere Begriffe beschreiben die Wirklichkeit nicht mehr.
Vera Linß: Die Kontroverse um Begriffe wie "Migranten" oder "Bootsflüchtlinge" ist Teil unserer Mediengeschichten geworden - aber das Thema ist jetzt viel größer und beeinflusst alle möglichen geopolitischen Argumente hier in Europa. Wenn man daran denkt, wie Immigration die politischen Narrative beeinflusst: Wer nutzt das mit welchem Ziel für sich aus?
Saskia Sassen: Ich denke, es gibt wahrscheinlich zwei oder drei Gruppen die glauben, dass sie daraus Nutzen ziehen können. Eine Gruppe davon sind die Politiker, die sich nie die Mühe gemacht haben, ihren Wählern zu erklären, warum diese Einwanderer kommen. Das sieht man überall, in Nordamerika, in Europa, in Großbritannien. Für sie ist es einfach leichter, davon auszugehen, dass der Fehler einzig und allein bei den Migranten zu suchen ist, und man selber gar nichts machen kann, anstatt auch mal kritische Aspekte aufzugreifen.
Die Verantwortung des Westens
Zum Beispiel fliehen viele dieser Migranten vor Kriegen, die wir in gewisser Weise erst möglich gemacht haben. Wir - der Westen. Indem wir beispielsweise der einheimischen Bevölkerung Land weggenommen haben, indem wir Wasserzugänge verhindert haben, indem wir Land durch Plantagen, Agrarindustrie und Bergbau zerstört haben, sind Menschen an den Rand gedrängt worden. Wir im Westen sind die Profiteure des Reichtums und der Ressourcen Afrikas – Afrika drängt sich einem da auf, weil in Asien, was die Kriege betrifft, die Fakten ein wenig komplizierter sind.
Für mich ist das ein wichtiges Element, nicht das einzige, aber ein ausschlaggebendes - die Tatsache, dass wir das komplett übersehen haben, die Migrationsliteratur befasst sich ebenfalls nicht damit. Das typische Bild, was man sieht, ist das des ankommenden Migranten. Sie sind da unten in Libyen, dann machen sie die Überfahrt undsoweiter. Anstelle, dass man sich mal fragt, was da passiert, wo diese Leute herkommen.
Unsere Begriffe scheitern an der Wirklichkeit
Martin Böttcher: Das ist ja auch eine Frage der Begrifflichkeiten. Wir sprechen hier in Europa von "Flüchtlingskrise" oder "Transitzentren", auch im Journalismus. Brauchen wir eine neue Sprache im Journalismus?
Saskia Sassen: Die Sprache, die wir benutzen, spiegelt nur einen Teil der Geschichte wider. Was sie weglässt, ist das Bemühen, die anderen Faktoren wahrzunehmen. Die dominante Darstellungsweise ist so effektiv, so simpel, jeder kann sie verstehen.
Man erhält schon den Eindruck einer gewissen Faulheit der politischen Schichten, auch einer Art verengter Sichtweise unter den Migrations-Experten, die jahrelang auf bestimmte Art und Weise über Migration gesprochen haben und nicht bereit sind, dieses Narrativ zu ändern.
Eine dritte Variante der Migration
Mir geht es darum, dass man heute das Aufkommen einer dritten Variante der Migration feststellen kann, für die es noch keine Gesetzgebung gibt. Weder handelt es sich um Flüchtlinge im klassischen Sinne, noch um typische Migranten, bei denen ein Haushalt entscheidet: "Okay, Du gehst jetzt für ein paar Jahre nach Europa und dann kommst du zurück und dein kleiner Bruder geht …"
Diese routine-artige Migration existiert zwar noch und die traditionelle Variante der Flüchtlinge, die vor einem Krieg fliehen, existiert ebenfalls noch. Aber es gibt eben, wie gesagt, eine dritte Variante. Diese dritte Art von Migranten sind in großem Ausmaß Opfer bestimmter Formen ökonomischer Entwicklung: Plantagenwirtschaft, Bergbau, Water-Grabbing, also der Ausverkauf von Wasserrechten, und die Zerstörung des Landes, das die Menge an Boden, die kleinen Landeigentümern zur Verfügung steht, immer stärker schrumpfen lässt.
Wie lässt sich die Realität beschreiben?
Martin Böttcher: Aber nochmal nachgefragt: Brauchen wir eine neue Sprache?
Saskia Sassen: Ja, die brauchen wir. Die dominanten Kategorien, die wir verwenden – von "Kriegsflüchtlingen" und traditionellen Einwanderern zu reden –, reicht nicht aus, um das darzustellen, was eine wachsende Migration heute ausmacht. Das hängt mit bestimmten Formen wirtschaftlicher Entwicklung zusammen, die Menschen aus ihren Ländern drängen, die Land und Wasservorräte vernichten und vergiften. Wir brauchen eine neue Sprache. Nicht nur im Journalismus, sondern auch in der Forschung zu diesem Thema.
Verschleierung der Fluchtursachen
Vera Linß: Die Stimme der Populisten, die mit "Take back control", "Wir sind das Volk" oder Donald Trumps: "I’m your voice" – ich bin eure Stimme – immer wieder "Wir" gegen "die Anderen" stellen: Wie verstehen Sie die Idee des Populismus? Als Ideologie, politischen Stil oder Diskurs?
Saskia Sassen: Populismus ist zum Teil eine Ideologie, teilweise ein Wort, von dem wir alle wissen, dass es funktioniert – die Leute sagen schnell mal: "Oh, ja, das ist Populismus!" Für mich sind das gefährliche Begriffe, weil sie dazu einladen, nicht weiter nachzudenken, nicht zu fragen: "Warum passiert das? Wann hat das angefangen? Warum kommen diese Leute? Warum sind sie bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, all ihr Geld für die Flucht zu verwenden? Was passiert? Woher kommen sie?"
Hier geht es nicht um uns als diese großartigen Länder, wo man so gerne ein neues Leben anfangen würde. Diese Leute sind Flüchtlinge anderer Art – nicht unbedingt eines Krieges, sondern eine Art von Flüchtlingen, für die wir, wie gesagt, noch keinen Namen haben.
Die Grenzen des Sagbaren
Martin Böttcher: Wenn man den Begriff des Populismus nochmal nimmt: Populismus gibt es schon sehr lange und er ist ebenso lange effektiv. Warum lassen sich politische Randbereiche so einfach dazu benutzen, rassistische Ideologien zu produzieren? Verschieben sich gerade auch die Grenzen des Sagbaren?
Saskia Sassen: Alles, was wir wirklich wahrnehmen – seien es die Medien, die Politiker oder die Leute in der Nachbarschaft –alles, was wir wissen, ist: Dass diese Menschen in unser Land kommen. Dass es uns ein bisschen zu viele sind. "Das kostet doch Geld, es gibt doch schon Arbeitslosigkeit, warum nehmen wir die alle auf." Das ist, was die Leute sehen.
Als Akademikerin und als jemand, der viel recherchiert, nehme ich nichts als gegeben hin. Wenn diese Migranten kommen, sehe ich das als Ergebnis, als Folge von etwas anderem.
Armut ist nicht der alleinige Fluchtgrund
Wenn man sich zum Beispiel nur die Armut alleine ansieht – und das ist ein wichtiger Fakt: Wie viele Leute müssten dann auf der ganzen Welt den Wunsch haben, ihr Land zu verlassen und in reiche Länder zu ziehen. Aber das ist nicht der Fall. Relativ betrachtet ist die Anzahl der Migranten weltweit sehr, sehr viel geringer als die Zahl der Armen auf der Welt. Armut alleine reicht also nicht aus um Migration zu erklären. Sonst hätten wir zwei Milliarden Menschen, die versuchen würden, ihre Heimatländer zu verlassen. Und das haben wir nicht.
Es sind weitaus weniger – es gibt ungefähr 300 Millionen reguläre Migranten, ohne die Flüchtlinge, die ungefähr 80 Millionen ausmachen. Das sind die Fakten, die mich fragen lassen, was wir an dieser Geschichte der Migration nicht verstehen.
Größtenteils verzweifelte Menschen
Man kann das auch auf vergangene Migrationsgeschichte beziehen, aber beschränken wir uns mal auf die aktuelle Migration. Hier sieht man: Die meisten Afrikaner kommen nicht – sonst wären viel mehr von ihnen hier. Es sind also spezifische Bedingungen, die Leute aus ihren Heimatländern drängen.
Und ich denke, es ist wichtig, das auch wahrzunehmen. Das sind nicht einfach Leute, die sagen, "Oh, lass mich mal ausprobieren, ob ich im schönen Deutschland nicht ein besseres Leben haben kann." Das sind größtenteils verzweifelte Menschen.
Mariam Lau, die Autorin des "Contra"-Beitrags in der "Zeit", hatten wir ebenfalls im Gespräch, wo sie zu Ihrem Beitrag ausführlich Stellung bezog. Das Interview hören Sie hier in voller Länge: