Weiße interpretieren vietnamesische Geschichte
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Thomas Köck erhält den Dramatikerpreis für "Atlas". Dass die Inszenierung gänzlich ohne Beteiligung Betroffener auskommt, stößt auf Kritik. Jury-Mitglied Falk Schreiber erklärt: Nicht die Inszenierung wurde ausgezeichnet, sondern der Text.
Der österreichische Autor Thomas Köck hat sich im Auftrag des Schauspiels Leipzig mit der Migrationsgeschichte von vietnamesischen Vertragsarbeitern und Bootsflüchtlingen auseinandergesetzt - inszeniert von Philipp Preuss, besetzt mit Ellen Helwig, Sophie Hottinger, Denis Petkovic und Marie Rathscheck. Also mit Künstlern ohne vietnamesischen Background.
Das Stück wurde sowohl mit dem Publikums- als auch mit dem Dramatikerpreis der 44. Mülheimer Theatertage ausgezeichnet. "Atlas" wurde von der Jury als ein vielstimmiges Stück gelobt, das mit großer Emotionalität von traumatischen Erlebnissen erzähle – ohne zu moralisieren. Es setze die Fantasie des Publikums frei.
"Wir sind mehr als eure Inspiration"
In einem offenen Brief mit der Überschrift "Wir sind mehr als eure Inspiration" zeigen sich nun deutsch-asiatische Kunst- und Kulturschaffende erschüttert. Sie schreiben: "Wenn weiße Menschen die Geschichten von ‚Menschen of colour‘ auf deren Kosten nutzen, am Ende weiße Fantasien bedienen und Profit daraus schlagen, dann halten wir das nicht für auszeichnungswürdig, sondern für die Neuauflage kolonialer Traditionen."
Moniert wird auch, dass das Stück ins Deutsche Theater Berlin eingeladen wurde. Der Brief ist anonym, weil die Verfasser rassistische Anfeindungen und damit Nachteile für ihre Arbeit fürchten.
Texte werden ausgezeichnet, nicht Inszenierungen
Falk Schreiber ist in der Jury des 44. Mülheimer Theatertreffens und stimmte als einziger gegen Thomas Köcks Stück:
"Tatsächlich hatte ich ein bisschen Bauchschmerzen mit ‚atlas‘."
Durch diese nun aufgekommene Diskussion über kulturelle Aneignung und den kolonialen Charakter dieser Inszenierung sei ihm aber "ein bisschen klarer, woher diese Bauchschmerzen kamen".
Das Stücke-Festival beziehe sich aber explizit auf Texte und nicht auf Inszenierungen, erklärt Schreiber. "Die Frage, wie das in Leipzig inszeniert wurde, stellte sich uns erst mal nicht."
Darsteller spielen Menschen, die sie nicht sind
"‚Atlas‘ ist ein sehr, sehr guter Text, eine Familiengeschichte, die einen ganz weiten Bogen spannt vom Ende des Vietnamkrieges über vietnamesische Vertragsarbeiter in der DDR über Boat People in der BRD über die Wiedervereinigung bis zu einer Spurensuche im heutigen Vietnam."
Der Text sei "sehr, sehr faszinierend geschrieben" und habe den Preis verdient, so Schreiber.
Dass keine vietnamesischen Schauspieler auf der Bühne standen, sei der Jury zwar aufgefallen, berichtet Schreiber, doch habe man das nicht für so wichtig erachtet. Theater lebe schließlich davon, dass sich jemand hinstellt und behauptet, jemand zu sein, der er nicht ist, gibt das Jury-Mitglied zu bedenken.
Infragestellung jeder spielerischen Kunst
"Wenn man nun aber sagt, dass er auch tatsächlich erlebt haben muss, was er spielt, dann stellt man nicht nur das Theater in Frage, sondern auch ‚Camp‘ und ‚Queerness‘, also jede spielerische Kunst."
Schreiber meint zudem, dass das "rein weiß" inszenierte Stück immerhin eine Lücke zeige, die man nun ausleuchten, mit der man nun spielen könne. Das Wichtige bei der Identitätspolitik sei doch, dass man ein Thema überhaupt in den Blick bekomme. Er sei jedenfalls nun eher darauf gespannt, wie dieses Stück nachinszeniert werde:
"Ich glaube tatsächlich: Jetzt kann man dieses Stück nicht mehr rein weiß inszenieren."