Pauline Pieper studiert Philosophie im Master an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Interessenschwerpunkte sind Sozialphilosophie und Kritische Theorie.
Was heißt hier eigentlich frei?
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Welche Freiheiten kann und soll es für Geimpfte geben? Diese Frage wird derzeit diskutiert. Aber welche Vorstellung von Freiheit ist dabei am Werk? Das fragt Pauline Pieper in ihrem Kommentar.
Seitdem Lockerungen von Coronamaßnahmen für Geimpfte im Gespräch sind, ist der Begriff der Freiheit in aller Munde. Im Namen der Freiheit wird dafür argumentiert, Beschränkungen schnellstmöglich aufzuheben. Wer kein Infektionsrisiko mehr darstellt, darf nicht in seiner Freiheit eingeschränkt werden, so die Forderung.
Endlich wieder reisen, speisen, shoppen
Freiheit scheint offenbar darin zu bestehen, dass ich wieder ins Restaurant gehen darf, dass ich wieder reisen darf, dass ich wieder shoppen gehen kann. Freiheit wird also zu einer sehr individuellen Angelegenheit und der Run auf die begehrte Impfung als Tor zur Freiheit mündet in allgemeines Ellenbogen-Ausfahren.
Denn solange mir keine äußeren Hindernisse beim Verfolgen meiner persönlichen Ziele im Weg stehen, bin ich frei. Rücksicht auf andere Menschen oder staatlich vorgegebene Coronamaßnahmen sind mit anderen Worten Begrenzungen meiner persönlichen Freiheit. Ein solches egozentrisches Freiheitsverständnis lässt allerdings eine entscheidende Dimension der Freiheit außer Acht: die soziale Dimension.
Freiheit nur in Beziehung zu anderen
Der Philosoph Axel Honneth weist mit seinem Konzept sozialer Freiheit darauf hin, dass individuelle Freiheit überhaupt erst in einem sozialen Gefüge möglich werden kann. Wirklich frei sein kann ich nur, wenn die sozialen Praktiken und Institutionen, in denen ich lebe, mir die selbstbestimmte Verwirklichung meiner Ziele ermöglichen. Dazu müssen wir Beziehungen wechselseitiger Anerkennung eingehen.
In solchen Beziehungen wird der oder die andere nicht als Begrenzung, sondern als Bedingung der Verwirklichung unserer je eigenen Ziele gesehen. Anstatt nur egoistischen Motiven zu folgen, beziehen wir in Praktiken sozialer Freiheit die Bedürfnisse der anderen immer schon mit ein und sehen die Erfüllung dieser Bedürfnisse als Bedingung unserer eigenen Freiheit.
Selbstbeschränkung für ein gemeinsames Ziel
Vor diesem Hintergrund erscheint das Freiheitsverständnis in der aktuellen Debatte um die Lockerungen für Geimpfte doch ziemlich begrenzt. Die Rückkehr der Geimpften in die Freiheit wird der Unfreiheit der Ungeimpften gegenübergestellt, die sich weiterhin an die Maßnahmen halten müssen. Schon macht das Unwort "Impfneid" die Runde durch die Medien und sozialen Netzwerke.
Eigentlich aber ließe sich die Idee einer gemeinschaftlichen Beschränkung zum Wohle aller gerade als ein Ausdruck sozialer Freiheit betrachten. Ich beschränke mich selbst mit dem Wissen, dass auch alle anderen sich beschränken, und somit erreichen wir ein gemeinsam gesetztes Ziel: der Ausbreitung des Virus Einhalt zu gebieten. Nur so können wir schließlich die Freiheit aller sichern.
Wer schüttelt die Betten, öffnet die Läden?
Wir sind in sozialen Beziehungen immer schon miteinander verbunden und können uns Freiheit nur gegenseitig ermöglichen. Ein rein individuelles Freiheitsverständnis, das diese soziale Abhängigkeit nicht mit einbezieht, ist unzureichend. Das wird auch auf globaler Ebene deutlich: Wenn einige Staaten nur die eigene Bevölkerung impfen und andere leer ausgehen, gefährden die potenziell entstehenden Mutationen wiederum die schon Geimpften.
Ein Freiheitsverständnis, das an der eigenen Landesgrenze haltmacht, wird so schlussendlich zur Gefahr für alle. Und auch wenn die Geimpften hierzulande bald wieder ins Restaurant gehen können, braucht es nicht zuletzt jemanden, der ihnen das Essen zubereitet und serviert. Wenn sie wieder reisen wollen, braucht es jemanden, der ihr Hotelzimmer herrichtet. Wenn sie wieder shoppen gehen wollen, braucht es jemanden, der den Laden für sie öffnet. Verabschieden wir uns also von der Idee, alleine frei sein zu können.