Matthias Gronemeyer, Jahrgang 1968, ist Hochschuldozent für Philosophie, Autor und Publizist. Zuletzt erschien von ihm "Trampelpfade des Denkens - Eine Philosophie der Desorientierung", wo er den Zusammenhängen von Digitalisierung und Demenz nachspürt; gegenwärtig arbeitet er an einer "Philosophie vom Sex".
Mehr Symbolpolitik!
Der Staat soll Lösungen für Probleme finden, die der Einzelne nicht lösen kann, lautet vielfach die Forderung an die Politik. Doch der darin verborgene Rationalitätsanspruch geht nicht auf, meint der Philosoph Matthias Gronemeyer: Politik bewirkt auch viel, wenn sie nur symbolisch handelt.
"Morgens machen wir Propaganda, nachmittags Politik." Dieser Satz, der Franz Josef Strauss zugeschrieben wird, drückt ein Politikverständnis aus, das zwischen Theater und bloßer Symbolik fürs Volk einerseits und nüchterner Rationalität andererseits unterscheidet. Richtige Politik, so könnte man dieser Denkungsart entnehmen, müsse dagegen dem Volk notorisch unverständlich bleiben.
Politisches Handeln ist symbolisches Handeln
Wer von der Politik aber nur Sachlichkeit, Rationalität und Lösungsorientierung erwartet, hat ihr Wesen nicht verstanden. Politisches Handeln ist im Kern symbolisches Handeln. Der Philosoph Ernst Cassirer hatte herausgearbeitet, dass der Mensch nicht das "animal rationale" ist, für das er sich lange Zeit gehalten hatte, sondern in einer Welt voller Symbole lebt, die er sich ebenso symbolisch aneignet. Cassirer sprach deshalb vom Menschen als dem "animal symbolicum": Wir wissen nicht, was die Wahrheit ist, wir haben keine unmittelbare Erkenntnis von den Dingen. Wir können ihnen nur etwas zur Seite stellen, Symbole eben, die dann für uns etwas bedeuten.
Die Debatten im Parlament sind solch ein symbolisches Handeln, ebenso wie die Wahlen zu diesem Parlament. Alle derartigen Beschwörungen von Gemeinsamkeit. Wer der Politik ihren Symbolismus im Namen von Sachzwängen nehmen will, degradiert sie zur bloßen Verwaltung. Und darf sich dann nicht wundern, wenn die Leute sich abwenden.
So wird die europäische Politik in Brüssel eben hauptsächlich als Bürokratie wahrgenommen und kann als solche die Herzen nicht entflammen. Dass man zuletzt versucht hat, den vermeintlichen oder tatsächlichen Feinden der europäischen Idee ihre Symbole in Form von Burka oder Minarett zu verbieten, zeigt die ganze Hilflosigkeit einer sogenannten Sachpolitik, die nicht verstanden hat, dass man mit Rationalität nicht gegen Symbole ankommt.
Auch der IS trägt Nike
Die Frage kann also nicht lauten: "Sachpolitik oder Symbolpolitik?", sondern muss lauten: Welche Symbolpolitik? Jetzt lässt sich die verbindende und motivierende Kraft eines Symbols aber nicht per Dekret verordnen, sondern sie muss aus den konkreten Erfahrungen, Bedürfnissen und Hoffnungen der Menschen erwachsen.
In unserer säkularen Welt haben die Konsumgegenstände eine solche verbindende Kraft entwickelt und die religiösen Symbole vielfach ersetzt. Sie sind aber zugleich wertneutral und taugen daher nicht als Zeichen unseres Rechts- und Freiheitsverständnisses. Auch der IS trägt Nikes, nutzt iPhones und Facebook. Die Idee, man könne die Welt unter der Ägide eines globalen Konsumismus einen, darf getrost als absurd bezeichnet werden. Die Menschen ahnen das - und stellen sich zumindest in Teilen dem ökonomistischen Kalkül entgegen.
Wo ist das starke Symbol für kollektives Handeln?
Man sollte das nicht leichtfertig verspielen. So würde durch die Symbolkraft eines Abbruchs der TTIP-Verhandlungen zivilgesellschaftlich wohl weit mehr gewonnen, als dadurch vielleicht wirtschaftlich verloren würde. Das bloße Dagegensein birgt allerdings immer die Gefahr, ins Ressentiment zu kippen. Wo finden wir also positive Symbole? Als Deutschland die Grenzen für Flüchtlinge öffnete und sich in der Folge eine Willkommenskultur entwickelte, war damit ein solches positives symbolisches Handeln entstanden, das in dem Satz "Wir schaffen das" sein Credo fand.
Es wäre ein falsches Signal, diese Symbolik wieder restfrei in Rationalität auflösen zu wollen, aus Angst vor den Symbolen der Anderen. Vielleicht, so könnte man einen Blick in die Zukunft wagen, verlangen die anstehenden Integrationsaufgaben nach einer neuen Wehrpflicht, die nur diesmal per se ein Zivildienst wäre. Den würden zwar auch nicht alle mögen, aber er wäre ein starkes Symbol für Politik als kollektives Handeln.