#MeToo: "Moralischer Totalitarismus" oder Aufklärung?
In der Diskussion über sexuellen Missbrauch haben die Schriftstellerin Thea Dorn und der Kolumnist Georg Diez sehr unterschiedliche Positionen vertreten. Dorn warnt im Zusammenhang mit #Metoo vor "moralischem Totalitarismus", während Diez dieses Argument als "Grabplatte" für einen überfälligen Diskurs kritisiert.
Unter dem Hashtag #MeToo berichten seit mehreren Wochen unzählige Frauen von ihren Erfahrungen mit sexueller Belästigung oder Missbrauch – meist anonym, teilweise aber auch unter Nennung der Beschuldigten, für die das existentielle Konsequenzen haben kann, wie der Fall Kevin Spacey zeigt. Unsere Studiogäste sind unterschiedlicher Ansicht, ob es um notwendige Aufklärung geht oder einen neuen moralischen Totalitarismus, wie die Schriftstellerin Thea Dorn kürzlich im Deutschlandfunk Kultur beklagte. Ein Vorwurf, den der Publizist Georg Diez in seiner Kolumne wiederum als "Grabplatte" für eine sinnvolle Debatte bezeichnete.
Im Gespräch mit Diez verteidigte Dorn nun ihre Wortwahl: "Totalitär" bedeute, dass nicht mehr differenziert, sondern nur noch in "gut" und "böse" unterteilt werde, sagte sie. "Widerstreitende Werte" würden als Merkmal einer offenen Gesellschaft nicht mehr anerkannt. "Eine totalitäre moralische Ideologie leugnet den schönen, alten Kant-Satz: Dass der Mensch aus einem krummen Holz geschnitzt ist und sich deshalb nicht gänzlich Gerades daraus zimmern lässt." In der Debatte rund um #MeToo werde versucht, eine solche Moral "zu inthronisieren", die "das Krumme, das in uns ist" leugne und stattdessen versuche, einen "neuen Menschen" zu schaffen.
Hysterische Debatte
Thea Dorn sagte, sie empfinde die Debatte als "äußerst hysterisch" und paranoid. Mit Unterstützung der Massenmedien entstünde "so etwas Ähnliches wie öffentliche Meinungsgerichtshöfe". Die nachträgliche Entfernung des US-Schauspielers Kevin Spaceys aus einem noch in Arbeit befindlichen Ridley-Scott-Film nannte sie als Beispiel für "Säuberungsaktionen". All das sei zwar noch von einem totalitären Staat wie unter Hitler oder Stalin "meilenweit entfernt", "aber die Tendenzen führen in so eine Richtung".
Georg Diez hielt dagegen, dass gerade in dieser Beschreibung der Debatte selbst ein Mangel an Differenzierung liege. Er warf Dorn vor, zu übersehen, "wie viele Tausende von komplizierten Fällen es gibt". Stattdessen konzentriere sie sich allein auf Spacey, aber selbst diesen Fall betrachte sie nicht "systematisch oder differenziert". Stattdessen prügele Dorn mit einer "antirationalistischen Empiriefeindlichkeit" auf ein Phänomen ein, das sich doch gerade erst entwickle und von dem noch gar nicht abzusehen sei, wohin. Ihre Argumente wirkten wie eine "Grabplatte des Diskurses", kritisierte Dietz.
Dorn entgegnete, dass der Fall Spacey zeige, wie bereits vor der juristischen Klärung des eigentlichen Sachverhalts "eine Karriere vernichtet" werde. Anders als bei dem US-Filmproduzenten Harvey Weinstein seien die Vorwürfe gegen Spacey "durch nichts zu rechtfertigen". Die Schriftstellerin nannte es alarmierend, dass jemand "so systematisch fertig gemacht" werde. Diez hingegen führte Dorns Bewertung auf eine ungenügende Recherche zurück. Schließlich gehe es bei Spacey "mehr als 20 Fälle von nachgewiesenem sexuellen Missbrauch". Auch gerieten durch die Fokussierung auf den US-Schauspieler zahlreiche andere Fälle aus dem Blick, auch der "strukturelle Sexismus im Silicon Valley".
Dorn sieht in #MeToo eine Verharmlosung "brutaler sexueller Gewalt", nämlich dadurch, "dass eine Frau, die mal eine ungewollte männliche Hand am Oberschenkel oder im Ausschnitt hatte, sich genauso auf dem Opfermarktplatz tummelt". Dadurch würden die echten Opfer verhöhnt.
Strukturen sexueller Schieflage
Diez warf ihr vor, "zu ignorieren, wie Sexismus und sexuelle Gewalt zusammenhängen". Man müsse sich die "Strukturen sexueller Schieflage" anschauen, die sich in Gehältern ebenso wie in der Geschlechterverteilung in bestimmten Branchen und Unternehmen äußerten. "Hier haben Leute etwas erlebt und versuchen es zu beschreiben – so schafft man Öffentlichkeit." Nicht nur Gerichte würden "Wahrheit" schaffen, sondern auch gesellschaftliche Prozesse.
Angesprochen auf einen Satz der Journalistin Laura Himmelreich, die die Abschaffung des Sexismus darin sieht, all das "zu beseitigen, was zu Machtungleichheit führt", sagte Dorn: Dieser Satz sei entweder "lächerlich" oder "hochgradig gefährlich". Sie erkenne darin das Projekt eines "neuen Menschen" wieder, das historisch – von der französischen Revolution bis zum Kommunismus und Nationalsozialismus – immer gescheitert sei. Eine Gesellschaft ohne Machtungleichheit sei eine "gelähmte" Gesellschaft, die Forderung danach sei "absurd". Stattdessen müsse es darum gehen, "Macht sinnvoll einzuhegen".
Mit Gleichmacherei habe #MeToo, nichts zu tun, widersprach Diez: "MeToo heißt eine Vielzahl von einzelnen Stimmen, eine Vielzahl von einzelnen Geschichten." Die Angst vor Prüderie könne er nicht verstehen, vielmehr gehe es doch um einen höflichen, aufmerksamen Umgang der Geschlechter miteinander – um eine Anerkennung der Menschen in all ihrer 'Krummheit'. Das bedeute auch, "widersprüchlich und offen und neugierig für die Krummheit der anderen" zu sein.
Wehrhafte Frauen
Dorn hatte kürzlich im Interview mit Deutschlandfunk Kultur gesagt, dass Bezeichnungen wie "Mäuschen oder Pussy" kein Grund seien, einen Mann in einem öffentlichen Medium anzuprangern. Frauen müssten solche Äußerungen aushalten. Im Gespräch mit Diez präzisierte sie ihre Haltung: So etwas auszuhalten, sei nicht weiblicher Masochismus, sondern genau das Gegenteil. Daraus spreche die Erkenntnis, "dass ich mich auch als Frau wehren, verteidigen muss", statt "die Schulhofaufsicht" zu rufen.
Die entscheidende Frage für eine Zivilgesellschaft sei, wo die Grenze zwischen Eigenverantwortung und staatlicher (juristischer, polizeilicher) Intervention verlaufe. Dorn vertrat die Ansicht, dass erst eingeschritten werden müsse, wenn es sich um Verbrechen handele und "brutale sexuelle Übergriffe" vorlägen. Ein "schiefer Blick", zweideutige Bemerkungen oder "Grabschen" fielen hingegen nicht unter diese Kategorien. "Eine erwachsene Frau muss sich dessen bitte erwehren können! Wie will die denn sonst durch die Welt kommen?"
Unzulässige Vereinfachung?
Diez zeigte sich über diese Weltsicht "betrübt" und rügte die unzulässige Vereinfachung – "als ob wir in der Wildnis wohnen". Der Autor verwehrte sich dagegen, dass eine Frau sich gegen sexuelle Übergriffe selbst verteidigen müsse. Wenn Dorn diese Stärke für sich in Anspruch nehme, dann sei das ein Privileg, entbinde sie aber nicht davon, in einer Demokratie auch die Schwäche anderer Menschen zu akzeptieren und deren Situation zu verstehen. "Es geht darum, in einer Gesellschaft Normen festzulegen, die verbindlich sind für alle und genau zu formulieren: Wie wollen wir miteinander leben?" Man könne nicht einfach akzeptieren, dass man "Männern zwischen die Beine treten muss, weil es halt so ist".
Dorn sprach dagegen von Überempfindlichkeit. Schon ein verkorkstes Kompliment oder eine ungewünschter Blumenstrauß würden heutzutage skandalisiert – Diez widersprach dieser Darstellung. Dorn führte weiter aus, wo für sie die Grenze zwischen verbrecherischer, "brutaler" Gewalt und bloßer Belästigung verlaufe: "Habe ich eine veritable Chance, mich zu wehren – kann ich abhauen, kann ich dem zwischen die Beine treten? Oder hab ich die nicht mehr?" Diesen Maßstab lege sie an, um die Berichte aus Hollywood zu bewerten. Solange das "vermeintliche Opfer" noch habe Nein sagen können, sei das zwar "lästig", ekelhaft und unschön, aber noch kein Verbrechen.
Frage der wirtschaftlichen Rationalität
Diez hielt dagegen, dass Sexismus und sexuelle Gewalt nicht so einfach voneinander zu trennen seien. Die Diagnose einer kultivierten "Überempfindlichkeit" in bestimmten Gruppen, die wirklich wichtige Probleme aus dem Blick geraten lasse – wie sie der Philosoph Robert Pfaller in seinem neuen Buch "Erwachsenensprache" vorbringe – disqualifizierte Diez als privilegierte Position: Sie lasse "ökonomische Bedingungen aus, soziale Bedingungen aus" und "reduziert das Spielfeld des Politischen" auf die eigenen Prioritäten. Gerade dadurch würden Grundsatzfragen vermieden: Eine gerechte Wirtschaftsordnung lasse sich nicht von Geschlechterfragen trennen, weil die "Frage der wirtschaftlichen Rationalität" immer noch sehr stark männlich geprägt sei.
Diesen Vorwurf wollte Dorn nicht gelten lassen: Die Fähigkeit, sich gegen männliche Übergriffe zu wehren sei empirisch nachweisbar absolut keine "Klassenfrage". Die Alternative zur Stärkung individueller "Abwehrkräfte" liege darin, "Umwelt so zu säubern, dass all das, was einen bedrohen könnte, verschwindet". Sie plädierte eindeutig für ersteres: "Putzt nicht die ganze Welt durch!" Diez wehrte sich dagegen, die Debatte auf diese beiden Extreme zu reduzieren und mahnte dazu, gerade den "interessanten Graubereich" dazwischen in den Blick zu nehmen – dort finde der "ernsthafte Diskurs" statt.
Komplexes System der Einschüchterung
Zuletzt kam, mit Blick auf den Weinstein-Skandal, die Frage zur Sprache, welche beruflichen Risiken in der Verteidigung gegen sexuelle Übergriffe zumutbar seien. Dorn vertrat die Ansicht, solange keine "kartellartigen Zustände" herrschten und das System offen genug sei, um den Arbeitgeber wechseln zu können, sei auch hier die individuelle Abwehr gefragt. Es gebe schließlich "kein Recht darauf, eine Schauspielkarriere zu machen".
Diez sagte, dass die entsprechenden Berichte und die Schilderungen der betroffenen Schauspielerinnen ein komplexes System der Einschüchterung erkennen ließen. Während Diez schließlich darauf bestand, dass auch plötzliche und späte Berichte über Missbrauch nachvollziehbar seien, vermutete Dorn, etwa bei dem US-Filmstar Angelina Jolie, "opportunistisches Verhalten".