Sabine Nuss: Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Die große Wiederaneignung und das vergiftete Versprechen des Privateigentums
Karl Dietz Verlag, Berlin 2019
136 Seiten, 12 Euro.
Stefan Gosepath: Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 2004
508 Seiten, 22 Euro.
"Wer enteignet hier eigentlich wen?"
36:09 Minuten
Wohnen wird teurer und in Großstädten für viele Menschen unbezahlbar. Wäre die Enteignung von Immobilienkonzernen in dieser Notlage gerecht? Die Publizistin Sabine Nuss und der Philosoph Stefan Gosepath schließen das nicht aus.
Bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Der Neubau stagniert, die Mieten steigen, Sozialwohnungen fehlen. Aber auch Menschen, die relativ gut verdienen, weichen in Hamburg, Düsseldorf oder München inzwischen notgedrungen in Randlagen aus. Der Streit um den knappen Wohnraum spitzt sich zu. In Berlin hat der Senat in der vergangenen Woche einen Mietendeckel beschlossen, um den Preisanstieg zu bremsen. Die Forderungen einer Bürgerinitiative reichen noch weiter: Sie will private Immobilienunternehmen in der Hauptstadt vergesellschaften.
"Eigentum ist kein Naturgesetz"
Der Ruf nach Enteignung hat heftige Gegenreaktionen ausgelöst. Die Pläne der Initiative führten geradewegs in den Staatssozialismus, warnen Kritiker. Der Philosoph Stefan Gosepath von der Freien Universität Berlin hält das für völlig übertrieben. Doch lässt sich das im Grundgesetz garantierte Recht auf Eigentum tatsächlich durch einen Anspruch auf "angemessenen Wohnraum" aushebeln, wie die Befürworter der Enteignung argumentieren?
Philosophisch betrachtet, verstehe sich das Recht auf Eigentum keineswegs von selbst, sagt Stefan Gosepath: "Es ist ja kein Naturgesetz, sondern etwas, das Menschen geschaffen haben zu bestimmten Zwecken." Als wesentlichen Zweck des Eigentums macht Gosepath die Sicherung von Freiheit aus: Um seine Freiheit ausleben zu können, sei jeder Mensch darauf angewiesen, über grundlegende Güter, wie etwa eine Wohnung, zu verfügen.
Im gleichen Zuge bedeute dies jedoch, dass die Freiheit des einzelnen dort ende, wo sie die Freiheit anderer beschneide: "Das Grundprinzip muss sein: gleiche Freiheit für alle, deshalb muss das Eigentum sich diesem Prinzip auch beugen." Wo Eigentümer ihre Mittel so einsetzen, dass es dem Wohl der Allgemeinheit widerspricht, würden dem Eigentum Grenzen gesetzt, so Gosepath:
"Wenn zum Beispiel Sachen produziert werden, die umweltschädlich sind, die gefährlich sind und so weiter, da finden wie es das normalste der Welt, dass diese Produkte verboten werden. Man kann den Gedanken, der dahinter steht, ausweiten und sagen. Wir brauchen eine demokratische Kontrolle dessen, was die Besitzer von Produktionsmitteln machen."
Mitspracherecht für Mieterinnen und Mieter
Demokratische Kontrolle fordert die Berliner Publizistin und Verlegerin Sabine Nuss auch für den Wohnungsmarkt ein. "Enteignung" werde im Streit um die entfesselte Spekulation mit Immobilien als "Kampfbegriff" benutzt. "Das ist ja eine Frage der Perspektive", sagt Nuss. Eine von Mieterhöhung betroffene Pensionärin könne mit Recht fragen: "Wer enteignet hier eigentlich wen? Ihr enteignet mich um meine Rente!"
Für Nuss wäre die Enteignung gewinnorientierter Wohnungsgesellschaften zugleich eine Aneignung: "Es geht darum, sich die Mittel, von denen wir lebensnotwendig abhängig sind, wieder anzueignen. Ich denke, es ist wichtig, dass ich über das, was unmittelbar mein Leben berührt, auch selbst bestimmen kann."
Nuss meint, dass die Menschen, die eine Wohnung bewohnen, in allen Belangen ein Mitspracherecht haben sollten: "Wann wird saniert? Wann wird die Miete erhöht? Zu welchem Zweck wird sie erhöht? Da sollten die Leute bestimmen, die tatsächlich selber in diesen Wohnungen wohnen."
Der Berliner Kampagne gehe es gar nicht um Enteignung im engeren Sinne, so Nuss, sondern um die Vergesellschaftung von Unternehmen und ihre Überführung in eine Anstalt öffentlichen Rechts. Als Vorbild für dieses Modell gelte Wien, wo in den 1920er Jahren ein großer Bestand öffentlich finanzierter Wohnungen gebaut wurde, der zum großen Teil bis heute im Besitz der Stadt ist.
Lebensverhältnisse auf Augenhöhe
Ein grundlegender Richtungswechsel am Wohnungsmarkt erscheint auch Gosepath sehr wichtig: "Wir müssen hier stärker demokratisieren, soziale Bindung für Wohnraum wieder deutlicher machen, die Frage der öffentlichen Infrastruktur in den Blick bekommen, so dass es eben keine abgehängten Stadtteile gibt." Gosepath blickt mit Schrecken auf Entwicklungen in den USA und Südamerika: "Man muss die Segregation verhindern: dass es diese Gated Communities von ganz Reichen und dann den Slum für die Armen gibt, die durch hohe Mauern, gegebenenfalls mit Schießscharten, voneinander getrennt sind." Lebensverhältnisse auf Augenhöhe zu schaffen und "eine bestimmte Grundqualität" in der Versorgung mit Wohnraum zu sichern, hält der Philosoph für eine zentrale öffentliche Aufgabe:
(fka)
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Philosophischer Wochenkommentar: Wieviel Moral nützt dem Klima?
"Ökofaschismus", "Klimahysterie", "Flugscham" – die Klimadiskussion ist aufgeheizt. Moralismus lautet der Vorwurf auf der einen Seite, Untätigkeit der auf der anderen. Wann sind moralische Argumente in der Klimadebatte angebracht und wann nicht, fragt Christian Neuhäuser.