Typisch deutsch

Ein Lob auf unsere Bedenkenträgerei

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sein Gesicht nachdenklich in seine Hände gestützt und verfolgt eine Debatte im Bundestag.
In der Diskussion über Waffenlieferungen an die Ukraine wird die deutsche Bundesregierung unter Kanzler Scholz für zu viel Zögerlichkeit geziehen. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Gedanken von Christian Schüle |
Wenn gesagt wird, etwas sei typisch deutsch, dient das meist dazu, dieses herabzusetzen. Beispielsweise bei der Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine. Der Autor Christian Schüle findet das nicht ganz richtig und versucht eine Ehrenrettung.
Angenommen, es wäre in diesem Kriegsfrühjahr anders gelaufen als „typisch deutsch“, anders also als seitens Deutschlands zögerlich, bedächtig, zaudernd, bremsend und vorsichtig. Die Regierung hätte sofort beschlossen, Panzer und schweres Kriegsgerät auf ukrainischen Boden zu verfrachten. Was wäre passiert? Stehenden Fußes wären Parallelen zu deutschen Wehrmachtspanzern in der Ukraine gezogen worden. Liebesentzug!
Und angenommen, die Regierung hätte beschlossen, komplett pazifistisch zu bleiben, nicht einmal Helme zu liefern, um ja keinen Anlass zu bieten, sich in einen Dritten Weltkrieg hineineskalieren zu lassen, all das begründet mit Verweisen auf die deutsche Geschichte? Die Deutschen, hätte es geheißen, wedeln mit dem Scheckbuch, richten sich in der Komfortzone ihrer Geschichtsbewältigung ein und lassen die anderen den Dreck machen. Liebesentzug!

Wie man es macht, macht man es falsch

„Typisch deutsch“ hieße nun also erstens: Wie man es macht, ist es falsch, obwohl man es immer so richtig richtig machen will. Und es hieße zweitens: Wie man es immer schafft, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. Realpolitik nach deutscher Art hieße schließlich: Ja, schwere Waffen liefern wir – als Exportgut, nicht als Kriegsgerät. Kaufen gern, aber bitte nicht zur Tötung einsetzen, siehe das Kleingedruckte! Und das Kleingedruckte sind die ganz großen Dinge: Schuld, Moral und Kontrollverlust.
Die stillschweigend kultivierte deutsche Staatsräson basiert ja auf einem Widerspruch in sich. Zum einen: „Nie wieder Krieg!“ – und zwar aufgrund der Verantwortung für die deutschen Verbrechen. Zum anderen: „Nie wieder Auschwitz!“ – und zwar aufgrund der Verantwortung für den von Deutschen vollzogenen Zivilisationsbruch. Beides zugleich geht aber nicht. Ein weiteres Auschwitz verhindern bedeutet fast immer Kampfeinsatz und Kriegsteilnahme – Töten im Namen der Humanität. Das nennt man tragisch.

Die Angst, sich festzulegen

Aus dem letztlich doch vorbildlichen Schuldbewusstsein resultiert eine landestypische Form der Selbsterlösung: ein theoretischer, dieser Tage zunehmend missionarischer Moralismus, der bekehren und schulmeistern will, der Gesinnung und Bekenntnis fordert. In operativen Prozessen und Ambivalenzen wird hierzulande selten gedacht, stattdessen sind der Realitätswahrnehmung weltanschauliche Konzepte vorgeschaltet. Katheder und Kanzel haben in Deutschland bekanntlich eine lange Tradition.
Und während die westliche Welt ausgerechnet vom nuschelnden Kanzler Scholz so etwas wie Klarheit erwartet, waltet eine Kultur der „doppelten Angst“: Angst, sich festzulegen aus Angst, etwas falsch zu machen.
Kurzum: die Angst, irgendjemanden zu verprellen, irgendwo ein Ressentiment zu bedienen, gegen irgendeinen Korrektheitsanspruch zu verstoßen und von irgendwem nicht mehr gemocht zu werden, um schließlich sich selbst lahmzulegen – und damit inzwischen alle zu verärgern.

Streit und Reflexion sind wichtig

In den Nachkriegsjahrzehnten waren Vorsicht, Nachsicht und strukturkonservative Vernünftigkeit zu einem relativ typisch deutschen Charakteristikum geworden. Und offen gesagt: Die Bundesrepublik hatte sich durch ihre Glaubwürdigkeit auf diese Weise weltweit höchstes Renommee erarbeitet.
Der schriftliche Vernunftappel von deutschen Intellektuellen mag realitätsfremd sein, ja. Aber immerhin: Es gibt Diskurs! Besorgte Menschen schreiben offene Briefe – und was auch immer sie darin fordern: Es ist wünschenswert, denn es führt zu Streit und Reflexion. Bedenklichkeit und Tiefgründigkeit haben mindestens so viel Gutes für sich wie betroffenheitsbasiertes Pathos.

Eine intakte Verantwortungsethik

Diskurs aber heißt: Angebot, nicht Ächtung. Heißt: Mitdenken und weiterdenken. Letztlich ist sorgenvolle Bedächtigkeit immer Ausweis einer noch intakten Verantwortungsethik, die möglichst alle Eventualitäten komplexer Sachlagen anerkennt und alle Konsequenzen des eigenen Handelns miteinbezieht.
Auf Affekte zu reagieren, indem man mit Affekten regiert, ist das Gegenteil von Klugheit – gerade in einer von gestörter Impulskontrolle geprägten sozialmedialen Welt-Erregungsgesellschaft.
So gesehen ist typisch deutsche Bedenkenträgerei bei existenziellen Angelegenheiten durchaus bedenkenswert.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.

Christian Schüle
© Foto: privat

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