"Die Deutschen sind Erfinder der flexiblen Arbeitszeiten"
Die Arbeitssoziologin Kerstin Jürgens hat die jüngste Debatte über eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten als irreführend kritisiert. Das Problem sei vielmehr, dass viele Betriebe nicht mehr tarifgebunden seien.
Die Deutschen seien die Erfinder der flexiblen Arbeitszeiten, sagte die Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Kassel im Deutschlandradio Kultur. Der Acht-Stunden-Tag, der derzeit von den Arbeitgebern in die Diskussion gebracht werde, sei vielerorts längst nicht mehr der Alltag.
Arbeitszeitkonten schon seit den 1990er Jahren
"Diese Flexibilisierungsdebatte ist jetzt etwas irreführend, weil der Eindruck erweckt wird, als hätten wir keine flexiblen Arbeitszeiten in Deutschland", sagte das Mitglied der Expertenkommission im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. "Das Gegenteil ist eigentlich der Fall." Es gebe schon seit den 1990er-Jahren Modelle wie das "Atmende Unternehmen" bei Volkswagen oder Arbeitszeitkonten bei großen deutschen Unternehmen. Dort gelte schon lange der Wochen-, Monats oder Jahresmaßstab der Arbeitszeit.
Betrieblichen Belange dominieren häufig
Jürgens sagte, das Problem sei vielmehr, dass immer mehr Unternehmen nicht mehr tarifgebunden seien. Dort werde nicht mehr genau festgelegt, wie die Arbeitszeit aussehe und wann Arbeitszeitkonten für den Arbeitnehmer genutzt werden könnten. Die betrieblichen Belange dominierten sehr häufig, sodass Beschäftigte selten die Möglichkeit hätten, selbst anzusagen, wann sie ihre Stunden aus einem Arbeitszeitkonto wieder entnehmen könnten. In der Praxis erwiesen sich diese dadurch leicht als "Konten ohne Vollmacht", rügte die Soziologin.
Warnung vor gesundheitlichen Risiken
"Es gibt viele Beschäftigte, die schlichtweg einfach mehr arbeiten, wo einfach nicht fixiert wird, dass diese Mehrarbeit stattgefunden hat", sagte Jürgens. Deshalb sei sie in Sorge, wenn jetzt an das Arbeitszeitgesetz rangegangen werde, weil diese Regelung gerade für diese Beschäftigten immer noch ein "Haltegriff" sei. Die Soziologin warnte vor gesundheitlichen Risiken, wenn täglich zu lange gearbeitet werde.
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Wie wollen wir arbeiten? In der Zukunft mehr, weniger, anders, acht Stunden täglich oder mal ganz viel und dann wenig oder gar nicht? Wenn Sie jetzt ins Träumen geraten, dann muss ich Sie gleich wieder zurückholen auf den Boden der Tatsachen, denn diese Debatten, die werden von den Arbeitgebern befeuert, die das Ende der klassischen Acht-Stunden-Woche sich vorstellen können. Der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, bekanntlich SPD-Mitglied, der sagte zu diesen Debatten immerhin:
Sigmar Gabriel: Das ist eine Debatte, die ich ausdrücklich unterstütze, wie man die Chancen der Digitalisierung nutzt, um dem gewachsenen Bedürfnis von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach einer besseren Verbindung von Arbeiten und Leben entgegenzukommen.
von Billerbeck: Der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Kerstin Jürgens, die lehrt Mikrosoziologie an der Universität Kassel, die Professorin forscht seit Jahren genau über diese Themen – Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Gesundheit, Erschöpfung, Burn-out und all das, was mit der sogenannten Work-Life-Balance zusammenhängt –, und sie wurde 2015 auch berufen in die Expertenkommission des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Frau Jürgens, schönen guten Morgen!
Kerstin Jürgens: Guten Morgen, ich grüße Sie!
von Billerbeck: Die Unternehmer wollen weg vom festen Acht-Stunden-Tag, ich hab's gerade gesagt, hin zur flexiblen Arbeitszeit – könnte das nicht ein Vorteil sein, wenn man an manchen Tagen eben zwölf, dreizehn Stunden arbeitet, um an den anderen dann eben mehr Zeit zu haben für Freunde, Familie, Hobbys etc?
Jürgens: Ja, das hat ganz sicher Vorteile, und wir haben ja schon ganz viele Möglichkeiten dieser Flexibilisierung, soll heißen, ich glaube, diese Flexibilisierungsdebatte ist jetzt etwas irreführend, weil ja ein bisschen der Eindruck erweckt wird, als hätten wir keine flexiblen Arbeitszeiten in Deutschland. Das Gegenteil ist eigentlich der Fall, also die Deutschen sind so ein bisschen die Erfinder der flexiblen Arbeitszeiten. Modelle wie zum Beispiel das Atmende Unternehmen oder die Arbeitszeitkonten ...
Das Atmende Unternehmen
von Billerbeck: Was ist ein atmendes Unternehmen bitte?
Jürgens: Das Atmende Unternehmen, das wurde in den 90er-Jahren bei Volkswagen kreiert. Da ging es darum, dass das Unternehmen sich flexibel den Marktanforderungen, den Kundenwünschen anpassen will und muss, gerade im Zuge einer globalen Wirtschaft, und insofern gibt es seit den 90er-Jahren in Deutschland in vielen, in den meisten großen deutschen Unternehmen Arbeitszeitkonten, auf denen gilt schon längst der Wochenmaßstab der Arbeitszeit, der Monats- oder Jahresmaßstab. Da wird also ganz flexibel gearbeitet, je nachdem, wie die Auftragslage aussieht.
von Billerbeck: Das heißt, der Acht-Stunden-Tag, den die Arbeitgeber da so ein bisschen weg haben wollen, der ist schon längst für viele Arbeitnehmer eine Illusion?
Jürgens: Genau, den gibt es eigentlich so faktisch gar nicht. Es gibt natürlich eine große Gruppe von Beschäftigten, die den tatsächlich einhält. Das sind dann Berufe und Arbeitsbereiche, wo das geht – Bürotätigkeiten, Sachbearbeitung, also viele Berufe, da gilt das nach wie vor, da ist das die klassische Norm, weil es auch passt zu den Arbeitsaufträgen der Beschäftigten. Aber es gibt eben auch Branchen und Bereiche, da ist mehr Flexibilität gefordert, und da variieren das die Tarifpartner auch schon längst.
Da gibt es dann ja Betriebsvereinbarungen, und in diesen Betriebsvereinbarungen wird genau in einem Korridor festgelegt, welche Arbeitszeit berechnen wir eigentlich, von welchen Wochen- und Monatsarbeitszeiten gehen wir aus, und dann wird aber täglich auch davon abgewichen, wenn das die Auftragslage erforderlich macht.
Sorge um das Arbeitszeitgesetz
von Billerbeck: Das klingt so ein bisschen nach schöner, neuer Welt, wenn ich an viele Arbeiten von freien Beschäftigten auch in meinem Beruf denke, dann können die von solchen Vereinbarungen nur träumen.
Jürgens: Ja, das ist ja genau das Problem gegenwärtig in der Debatte. Wir haben eben zunehmend auch Unternehmen, die nicht tarifgebunden sind, wo also nicht genau festgelegt ist, wie die Arbeitszeit denn aussieht und wie ein solcher zeitlicher Korridor aussieht, wann zum Beispiel Entnahmemöglichkeiten von Arbeitszeitkonten bestehen. Und es gibt auch viele Beschäftigte, die schlichtweg einfach mehr arbeiten, wo gar nicht fixiert wird, dass diese Mehrarbeit stattgefunden hat.
Und das ist ein großes Problem, und insofern bin ich da etwas in Sorge, wenn jetzt an das Arbeitszeitgesetz rangegangen wird, weil das Arbeitszeitgesetz gerade für diese Beschäftigtengruppen dann immer noch so was wie einen Haltegriff darstellt, weil ich ja immer sagen kann, okay, es gibt keine Tarifvereinbarung oder keine Betriebsvereinbarung für meinen Bereich, in dem ich tätig bin. Aber dann kann ich zumindest mich darauf verlassen als Beschäftigter, dass ich das Arbeitszeitgesetz habe und da im Grunde ein gewisser Maßstab, ein Haltegriff doch definiert wird, was das Maß der Arbeit sein soll.
von Billerbeck: Sie haben da so einen schönen Ausdruck, "Haltegriff", und Sie haben ja auch vorhin erwähnt, dass es durch die Digitalisierung ja möglich ist, Arbeit mit nach Hause zu nehmen, und die Verlockung ist ja dann auch groß, dass man die zu Zeiten macht, wo man sich eigentlich erholen sollte. Welche Risiken birgt das?
Jürgens: Der Begriff "Haltegriff", der ist von Steffen Lehnhoff, einem Kollegen von mir, den möchte ich nicht auf mich ummünzen, sondern der Kollege hat auch lange zum Thema geforscht.
von Billerbeck: Das wird er jetzt gehört haben und sich freuen.
Jürgens: Das wird er gehört haben, ich hoffe, er ist Hörer Ihres Programms, das weiß ich. Also die Risiken sind so, also wenn man sich vorstellt jetzt zum Beispiel, der Vorstoß lautet ja, wir müssen mehr pro Tag arbeiten, und faktisch ist es ja so, der Acht-Stunden-Tag soll die Norm sein, das Arbeitszeitgesetz lässt schon jetzt zehn Stunden zu. Und abgesehen davon, ob das Arbeitszeitgesetz immer eingehalten wird, das ist ja auch noch mal auf einem anderen Blatt Papier. Aber das Risiko besteht eben darin tatsächlich, dass die Gesunderhaltung der Beschäftigten nicht gelingt. Wir haben gegenwärtig eine Debatte zum demografischen Wandel, die Menschen müssen immer länger sich im Erwerbsleben auch bewähren, müssen bis zur Rente durchhalten, das Rentenalter wird nach oben raufgesetzt.
Insofern stellt sich doch die Frage, wie Menschen über den Lebenslauf hinweg gesund und leistungsfähig bleiben. Und da stellt sich die Frage, ob ich das hinkriege, wenn ich elf, zwölf, dreizehn Stunden pro Tag arbeite und das eben dauerhaft. Und da, denke ich, hat sich der Gesetzgeber ja was dabei gedacht, zu sagen, es gibt hier Höchstgrenzen, die werden festgelegt. Das hat was mit der Verantwortung zu tun, die man für sich selbst hat, für die eigene Gesundheit und die Leistungsfähigkeit bis zur Rente. Das hat aber auch was mit der Verantwortung für andere Menschen zu tun.
Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich in einen Bus setze, von einem Arzt behandelt werde oder mit anderen Personen zu tun habe im Dienstleistungsbereich, da will ich natürlich, dass die ihre Arbeit richtig machen, professionell machen, dass sie auch angemessen ausgeruht sind, um diese Arbeit auch gut zu tun. Und das ist wichtig, denke ich.
Regelungen für das Homeoffice
von Billerbeck: Das heißt auch, dass viel gepriesene Homeoffice, dafür muss es gesetzliche Regelungen geben?
Jürgens: Na ja, zum einen gibt es ja viele Betriebsvereinbarungen zum mobilen Arbeiten. Meinem Eindruck nach sind diese Betriebsvereinbarungen auch im Sinne der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen zum Teil größtenteils geregelt, also da gibt es Möglichkeiten für das sogenannte Homeoffice. Insofern stellt sich die Frage, wo jetzt der Regelungsbedarf dann besteht. Ich könnte mir zum Beispiel bei einem Arbeitszeitgesetz vorstellen, dass man eher ganz andere Fragen dort regelt, nämlich die Frage, was sind eigentlich die Möglichkeiten der Beschäftigten, auf Zeitguthaben von Konten zum Beispiel zuzugreifen. Wenn ich mir vorstelle, ich arbeite und sammle Stunden an auf einem Arbeitszeitkonto, die ich dem Unternehmen ja anbiete zur Marktanpassung, zur Anpassung an Kundenwünsche ...
von Billerbeck: Dann muss ich die Möglichkeit haben, diese auch zu entnehmen, wie Sie sich ausgedrückt haben.
Jürgens: Genau, ja. Vor langer Zeit hab ich das mal genannt, also diese Arbeitszeitkonten erweisen sich oft in der Praxis als Konten ohne Vollmacht, soll heißen, die betrieblichen Belange dominieren dann immer. Aber ich habe als Beschäftigte eigentlich wenig Möglichkeiten, dann zu sagen, jetzt möchte ich für Vereinbarkeit oder eben jetzt auch für Work-Life-Balance diese Stunden entnehmen.
von Billerbeck: Kerstin Jürgens sagt das mit ihren Einwürfen zum Thema, nachdem die Arbeitgeber versucht haben, mal so eben den Acht-Stunden-Tag vom Tisch zu fegen, den es in vielen Bereichen ja ohnehin nicht mehr gibt. Sie ist Professorin für Soziologie an der Uni Kassel. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Jürgens!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.