Debatte um das Lernen in Deutschland? - Ein Luxusproblem
"Wenig hilfreich" nennt der Schulleiter und Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, die Vorschläge Richard David Prechts zur Verbesserung des Lernens und der Schule. Prechts Ideen kämen aus einem "Bauchladen" mit vielen "Ladenhütern".
Mattias Hanselmann: An unseren Schulen überwiegt Bulimie-Lernen, das heißt übersetzt, Schüler kotzen sinnlos Gelerntes in Klausuren wieder aus. Das sagt Richard David Precht, und das ist nur ein Beispiel für Vieles, das ihm an unserem Schul- und Bildungssystem nicht passt. Demotivierte Schüler, überforderte Lehrer und eine Massenflucht in die Privatschulen beklagt er ebenso wie Zensuren, 45-Minuten-Einheiten im Unterricht und das System von Schulklassen überhaupt. Josef Kraus ist Schulleiter und der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, der größten Lehrerorganisation in Deutschland außerhalb des DGB. Auch er hat Bücher zu Themen des Bildungsbetriebs geschrieben, zuletzt "Ist die Bildung noch zu retten? Eine Streitschrift". Das war im Jahr 2009. Josef Kraus ist jetzt für uns am Telefon. Willkommen!
Josef Kraus: Ja, guten Tag, Herr Hanselmann!
Hanselmann: Lassen Sie uns zunächst einen kleinen Ausschnitt aus dem Gespräch von heute früh mit Richard David Precht mit einer seiner zentralen Thesen mal anhören.
Richard David Precht: Das Ziel ist, vom Kind auszugehen. Das ist völlig neu. Das hat es natürlich in der einen oder anderen reformpädagogischen Strömung schon gegeben, aber flächendeckend ist das nie umgesetzt worden. Wir brauchen gar keine Fächer in der Schule, wir können alles durch individuelles Lernen auf der einen Seite und durch Projekte auf der anderen Seite machen. Kurz gesagt: Wir haben von den richtigen Einsichten immer nur ein ganz kleines Stück realisiert und einen Flickenteppich produziert. Und ich würde gerne, dass wir das, was wir an Einsichten gewonnen haben, dass wir das mal in einem Wurf versuchen, darzustellen.
Hanselmann: Herr Kraus, können sie von dem Gesagten etwas ansatzweise nachvollziehen?
Kraus: Kaum. Ich weiß nicht, von welchen Einsichten er ausgeht. Ich weiß nur, dass gerade die schwächeren Schüler am meisten Nutzen davon haben, wenn es klare Fächerstrukturen, klare Unterrichtsstrukturen gibt. Im Übrigen: Da steckt viel Idealisierung von Schülerschaft dahinter, da steckt viel Romantik dahinter. Da steckt übrigens auch sehr viel Zerrbild dahinter. Also, es gibt keine Massenflucht in die privaten Schulen, was er behauptet. Wir haben in Deutschland in den weiterführenden Schulen einen Anteil von etwa einem Achtel der Schüler, die private Schulen, meistens sind es kirchliche Schulen, besuchen. Das ist erheblich weniger, als wir das etwa im angloamerikanischen oder japanischen oder australischen Bereich haben.
Hanselmann: Also wir liegen da noch hinten mit dem Besuch der Privatschulen?
Kraus: Wir liegen nicht hinten. Ich sehe das sogar positiv. Das zeigt letztendlich, dass wir im Vergleich etwa mit dem angloamerikanischen oder auch französischen Bereich ein doch noch relativ intaktes öffentliches Schulwesen haben, das eben nicht sozial selektiv ist. Private Schulsysteme sind sozial selektiv, weil in Japan, in Australien, in den USA und so weiter Eltern sich zum Teil verschulden, um ihren Kindern für jährlich umgerechnet 30.000 Euro eine private Schule gönnen zu können.
Hanselmann: Das ist vielleicht finanziell in diesen Dimensionen bei uns nicht so, aber viele Menschen in Deutschland geben ihre Kinder eben zum Beispiel in kirchliche Schulen und bezahlen dafür.
Kraus: Ja gut, da geht es um Größenordnungen zwischen 100 und 200 Euro pro Monat, aber ich sage noch mal die Größenordnung. Was die Realschulen, was die Gymnasien betrifft, ist es ein Achtel der Schülerschaft. Und da kann man nicht von gigantischen Zuwächsen sprechen. Dieses Achtel ist relativ konstant. Also noch mal: Es sind Zerrbilder, die hier verbreitet werden.
Hanselmann: Ansätze für eine Revolution im Schulsystem seien da, sagt Richard David Precht, aber viel zu wenige. Er meint damit natürlich die Reformschulen, private Formen von Schulen, die wir eben angesprochen haben, in denen zum Teil das praktiziert wird, was Sie einmal in einem Buchtitel als "Spaßpädagogik" bezeichnet haben. Wie viel Spaß darf denn Lernen machen?
Kraus: Ich möchte unterscheiden zwischen Spaß und Freude. Spaß ist das Augenblicksorientierte, das Unterhaltungsmoment. Freude ist das, wofür man erst Anstrengung, Triebaufschub, Frustrationstoleranz investieren muss, und dann ist auch Freude da, und dann ist auch ein Glücksgefühl da. Ich möchte keine Spaßschule deshalb haben, weil Schüler dadurch jede Bereitschaft zur Anstrengung verlernen.
Hanselmann: Also Freude ist für Sie Spaß, den man sich erarbeiten muss?
Kraus: Wenn Sie so wollen, wenn Sie diese Semantik so gebrauchen, ja, einverstanden. Wir müssen unseren Schülern wieder beibringen, dass es sich lohnt, sich anzustrengen, und dass es ohne Anstrengung einfach mal nicht geht. Und den Schülern immer nur einzureden und zu oktroyieren, wie stressig Schule in Deutschland ist, das halte ich für eine Lachnummer. Es ist ein Luxusproblem, was wir hier haben. Vor allem, wenn ich etwa vergleiche, Schulsysteme, die ich nicht haben will, etwa in osteuropäischen Ländern oder in asiatischen Ländern.
Hanselmann: Sie liegen da aber nicht so weit weg von Richard David Precht. Teamfähigkeit, sagt er, statt Fachwissen, Selbstbewusstsein, Humor und Reflexionsfähigkeit sind durchaus auch Kompetenzen, die mit Freude zu tun haben und die er sich wünscht.
Kraus: Ja, die wünsche ich mir auch, aber dann sozusagen als das, was das Ergebnis ist. Auf solider fachlicher Grundlage. Unsere Schüler - drum lehne ich den Begriff des Bulimie-Lernens völlig ab -, unsere Schüler haben zu wenig mittlerweile konkretes Wissen und Können. Wenn ich mir anschaue, welch schrecklicher historischer und politischer Analphabetismus, bestätigen immer wieder Studien, hier um sich greift, dann muss ich sagen, wir erziehen eine unmündige Generation, wenn wir meinten, wir könnten ihnen Kompetenzen beibringen ohne die konkrete fachliche Basis. Wer nichts weiß, muss alles glauben. Und unsere Schüler müssen wieder mehr wissen, wieder mehr konkretes Wissen und Können, das hat nichts mit Bulimie zu tun, erwerben.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton. Wir sprechen mit Josef Kraus, dem Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes. Unser Thema: Schulrevolution à la Richard David Precht, was ist davon zu halten? Herr Kraus, Precht beklagte in unserer Sendung heute früh zudem eine zu große Macht der Kultusminister der Länder. Er möchte die Macht auf die einzelnen Schulen und deren Schulleiter verlagern. Man solle die Ebene der Kultusministerien radikal beschneiden. Wie wichtig sind denn die Kultusminister.
Kraus: Sie sind einmal deshalb wichtig, weil Schule in Deutschland Schule in einem Rechtsstaat ist, wo die Legislative das Wesentliche vorgibt und wo die Exekutive das umzusetzen hat, was die Legislative, also was die Landtage vorgeben. Es ist ein bisschen absurd, was Precht da fordert. Er wirft den Kultusministern vor, dass sie einen Flickenteppich erzeugt haben, und fordert nun, dass die Schule vor Ort autonom machen soll, was sie letztendlich will.
Er befördert also im Grunde genommen dann noch weiter einen Flickenteppich und eine Atomisierung von Schule. Schule muss quer durch die Republik, auch aus Gründen der Mobilität von Eltern, vergleichbar sein. Und Schule muss allerdings, und da wünsche ich mir einen verstärkten kompetitiven Föderalismus, natürlich auch ringen dürfen, einen Wettbewerb haben dürfen um bessere Systeme, aber das kann nicht auf der Ebene von 42.000 unterschiedlichen Schulprofilen - so viele Schulen haben wir nämlich in Deutschland - stattfinden, sondern das kann nur auf der Ebene eines kompetitiven Föderalismus stattfinden.
Hanselmann: Kompetitiver Föderalismus heißt, Bildung soll auch auf jeden Fall Ländersache bleiben, aber die Länder sollen untereinander prima konkurrieren um die besten Systeme und Möglichkeiten.
Kraus: Sie tun es ja im Grunde genommen, und wir haben ja hinreichend Diagnosen, dass es in Deutschland Länder gibt, die beherrschen das einfach mal besser als andere. Und da sollten sich die schwächeren Länder nach der Decke strecken, statt dass die Schwächeren Kompromisse schließen, und letztendlich kommt bei irgendwelchen Abiturstandards der Kompromiss des Kompromisses des Kompromisses heraus.
Hanselmann: Hören wir doch noch mal kurz rein in unser Interview mit Richard David Precht von heute früh. Er möchte nämlich auch das Lehrerdasein revolutionieren.
Precht: Ich schlage vor, dass Lehrer die Chance haben müssen, im Team zu unterrichten. Ich schlage vor, dass Lehrer alle vier Jahre mal eine Auszeit bekommen, in der sie die Batterien auftanken können, sich inspirieren lassen, was dann wieder seinen Niederschlag in neuen Projekten findet, ich will die Unterrichtsstundenzahl für Lehrer reduzieren. Ich will Lehrern Praktiker an die Seite stellen aus dem täglichen Leben - kurz gesagt, ich will richtig Leben, Kreativität, ja, einen viel abwechslungsreicheren Job aus dem Lehrerberuf machen. Nichts von dem, was ich sage, ist gegen den Lehrer gerichtet. Alles, was ich vorschlage, schlage ich für die Lehrer vor.
Hanselmann: Herr Kraus, das klingt doch prima!
Kraus: Also, ich wünsche mir auch mehr Zeit für Lehrer, damit sie sich sowohl um die besonders leistungsstarken wie auch um die besonders leistungsschwachen Schüler kümmern können. Von einem Sabbatjahr halte ich relativ wenig, und auch von der Forderung, Praktiker an die Seite gestellt zu bekommen. Herr Precht sollte sich mal anschauen, was wir etwa im Bereich unserer beruflichen Schulen, wo über 100.000 Lehrer unterrichten, Praktiker haben. Leute, die eine Berufsausbildung haben, die eng zusammenarbeiten mit den Kammern, mit den Lehrbetrieben und so weiter mehr.
Ich bedauere das übrigens sehr, dass auch Precht überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, dass ein großer sozialpolitischer und auch wirtschaftlicher Standortvorteil Deutschlands unser duales Ausbildungsprinzip ist. Und wenn er beklagt, dass wir einen zu engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsabschluss haben, dann soll er aber bitte auch zur Kenntnis nehmen, dass wir zusammen mit der Schweiz und mit Österreich die niedrigsten Quoten an arbeitslosen Jugendlichen haben, um den Faktor drei unterhalb dessen, was zum Beispiel der vermeintliche PISA-Sieger Finnland hat, nämlich fünf, sechs Prozent, Finnland über 20 Prozent. Also, es stört mich, wenn ich immer nur den Alarmknopf gedrückt sehe, und es stört mich, wenn ich nur Zerrbilder habe. Schule in Deutschland und Bildung in Deutschland ist erheblich besser, als es jetzt dargestellt wird.
Hanselmann: Letzte Frage, und Sie finden sicherlich eine kurze Antwort darauf: Herr Kraus, finden Sie einen solchen Beitrag zum Diskurs wie dieses Buch von Precht überhaupt sinnvoll oder halten Sie solch ein Buch für überflüssig?
Kraus: Wenn ich Angela Merkel hieße, würde ich jetzt platt sagen, es ist wenig hilfreich. Es ist ein Bauchladen an Vorschlägen und an Diagnosen. Und es sind viele Ladenhüter. Es ist, um drei Ecken herum, letztendlich die Forderung nach Errichtung einer Einheitsschule reformpädagogischer Prägung, wobei die Reformpädagogik ja in nichts bislang bewiesen hat, dass sie einer anderen, klassischen Pädagogik überlegen ist.
Hanselmann: "Wenig hilfreich" ist das neue Buch von Richard David Precht, findet Josef Kraus, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes. Einen schönen Tag noch, danke für das Gespräch!
Kraus: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links auf dradio.de:
"Die Schulen sollten die Macht haben" - Schriftsteller Precht will Kompetenzen der Kultusminister einschränken
Josef Kraus: Ja, guten Tag, Herr Hanselmann!
Hanselmann: Lassen Sie uns zunächst einen kleinen Ausschnitt aus dem Gespräch von heute früh mit Richard David Precht mit einer seiner zentralen Thesen mal anhören.
Richard David Precht: Das Ziel ist, vom Kind auszugehen. Das ist völlig neu. Das hat es natürlich in der einen oder anderen reformpädagogischen Strömung schon gegeben, aber flächendeckend ist das nie umgesetzt worden. Wir brauchen gar keine Fächer in der Schule, wir können alles durch individuelles Lernen auf der einen Seite und durch Projekte auf der anderen Seite machen. Kurz gesagt: Wir haben von den richtigen Einsichten immer nur ein ganz kleines Stück realisiert und einen Flickenteppich produziert. Und ich würde gerne, dass wir das, was wir an Einsichten gewonnen haben, dass wir das mal in einem Wurf versuchen, darzustellen.
Hanselmann: Herr Kraus, können sie von dem Gesagten etwas ansatzweise nachvollziehen?
Kraus: Kaum. Ich weiß nicht, von welchen Einsichten er ausgeht. Ich weiß nur, dass gerade die schwächeren Schüler am meisten Nutzen davon haben, wenn es klare Fächerstrukturen, klare Unterrichtsstrukturen gibt. Im Übrigen: Da steckt viel Idealisierung von Schülerschaft dahinter, da steckt viel Romantik dahinter. Da steckt übrigens auch sehr viel Zerrbild dahinter. Also, es gibt keine Massenflucht in die privaten Schulen, was er behauptet. Wir haben in Deutschland in den weiterführenden Schulen einen Anteil von etwa einem Achtel der Schüler, die private Schulen, meistens sind es kirchliche Schulen, besuchen. Das ist erheblich weniger, als wir das etwa im angloamerikanischen oder japanischen oder australischen Bereich haben.
Hanselmann: Also wir liegen da noch hinten mit dem Besuch der Privatschulen?
Kraus: Wir liegen nicht hinten. Ich sehe das sogar positiv. Das zeigt letztendlich, dass wir im Vergleich etwa mit dem angloamerikanischen oder auch französischen Bereich ein doch noch relativ intaktes öffentliches Schulwesen haben, das eben nicht sozial selektiv ist. Private Schulsysteme sind sozial selektiv, weil in Japan, in Australien, in den USA und so weiter Eltern sich zum Teil verschulden, um ihren Kindern für jährlich umgerechnet 30.000 Euro eine private Schule gönnen zu können.
Hanselmann: Das ist vielleicht finanziell in diesen Dimensionen bei uns nicht so, aber viele Menschen in Deutschland geben ihre Kinder eben zum Beispiel in kirchliche Schulen und bezahlen dafür.
Kraus: Ja gut, da geht es um Größenordnungen zwischen 100 und 200 Euro pro Monat, aber ich sage noch mal die Größenordnung. Was die Realschulen, was die Gymnasien betrifft, ist es ein Achtel der Schülerschaft. Und da kann man nicht von gigantischen Zuwächsen sprechen. Dieses Achtel ist relativ konstant. Also noch mal: Es sind Zerrbilder, die hier verbreitet werden.
Hanselmann: Ansätze für eine Revolution im Schulsystem seien da, sagt Richard David Precht, aber viel zu wenige. Er meint damit natürlich die Reformschulen, private Formen von Schulen, die wir eben angesprochen haben, in denen zum Teil das praktiziert wird, was Sie einmal in einem Buchtitel als "Spaßpädagogik" bezeichnet haben. Wie viel Spaß darf denn Lernen machen?
Kraus: Ich möchte unterscheiden zwischen Spaß und Freude. Spaß ist das Augenblicksorientierte, das Unterhaltungsmoment. Freude ist das, wofür man erst Anstrengung, Triebaufschub, Frustrationstoleranz investieren muss, und dann ist auch Freude da, und dann ist auch ein Glücksgefühl da. Ich möchte keine Spaßschule deshalb haben, weil Schüler dadurch jede Bereitschaft zur Anstrengung verlernen.
Hanselmann: Also Freude ist für Sie Spaß, den man sich erarbeiten muss?
Kraus: Wenn Sie so wollen, wenn Sie diese Semantik so gebrauchen, ja, einverstanden. Wir müssen unseren Schülern wieder beibringen, dass es sich lohnt, sich anzustrengen, und dass es ohne Anstrengung einfach mal nicht geht. Und den Schülern immer nur einzureden und zu oktroyieren, wie stressig Schule in Deutschland ist, das halte ich für eine Lachnummer. Es ist ein Luxusproblem, was wir hier haben. Vor allem, wenn ich etwa vergleiche, Schulsysteme, die ich nicht haben will, etwa in osteuropäischen Ländern oder in asiatischen Ländern.
Hanselmann: Sie liegen da aber nicht so weit weg von Richard David Precht. Teamfähigkeit, sagt er, statt Fachwissen, Selbstbewusstsein, Humor und Reflexionsfähigkeit sind durchaus auch Kompetenzen, die mit Freude zu tun haben und die er sich wünscht.
Kraus: Ja, die wünsche ich mir auch, aber dann sozusagen als das, was das Ergebnis ist. Auf solider fachlicher Grundlage. Unsere Schüler - drum lehne ich den Begriff des Bulimie-Lernens völlig ab -, unsere Schüler haben zu wenig mittlerweile konkretes Wissen und Können. Wenn ich mir anschaue, welch schrecklicher historischer und politischer Analphabetismus, bestätigen immer wieder Studien, hier um sich greift, dann muss ich sagen, wir erziehen eine unmündige Generation, wenn wir meinten, wir könnten ihnen Kompetenzen beibringen ohne die konkrete fachliche Basis. Wer nichts weiß, muss alles glauben. Und unsere Schüler müssen wieder mehr wissen, wieder mehr konkretes Wissen und Können, das hat nichts mit Bulimie zu tun, erwerben.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton. Wir sprechen mit Josef Kraus, dem Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes. Unser Thema: Schulrevolution à la Richard David Precht, was ist davon zu halten? Herr Kraus, Precht beklagte in unserer Sendung heute früh zudem eine zu große Macht der Kultusminister der Länder. Er möchte die Macht auf die einzelnen Schulen und deren Schulleiter verlagern. Man solle die Ebene der Kultusministerien radikal beschneiden. Wie wichtig sind denn die Kultusminister.
Kraus: Sie sind einmal deshalb wichtig, weil Schule in Deutschland Schule in einem Rechtsstaat ist, wo die Legislative das Wesentliche vorgibt und wo die Exekutive das umzusetzen hat, was die Legislative, also was die Landtage vorgeben. Es ist ein bisschen absurd, was Precht da fordert. Er wirft den Kultusministern vor, dass sie einen Flickenteppich erzeugt haben, und fordert nun, dass die Schule vor Ort autonom machen soll, was sie letztendlich will.
Er befördert also im Grunde genommen dann noch weiter einen Flickenteppich und eine Atomisierung von Schule. Schule muss quer durch die Republik, auch aus Gründen der Mobilität von Eltern, vergleichbar sein. Und Schule muss allerdings, und da wünsche ich mir einen verstärkten kompetitiven Föderalismus, natürlich auch ringen dürfen, einen Wettbewerb haben dürfen um bessere Systeme, aber das kann nicht auf der Ebene von 42.000 unterschiedlichen Schulprofilen - so viele Schulen haben wir nämlich in Deutschland - stattfinden, sondern das kann nur auf der Ebene eines kompetitiven Föderalismus stattfinden.
Hanselmann: Kompetitiver Föderalismus heißt, Bildung soll auch auf jeden Fall Ländersache bleiben, aber die Länder sollen untereinander prima konkurrieren um die besten Systeme und Möglichkeiten.
Kraus: Sie tun es ja im Grunde genommen, und wir haben ja hinreichend Diagnosen, dass es in Deutschland Länder gibt, die beherrschen das einfach mal besser als andere. Und da sollten sich die schwächeren Länder nach der Decke strecken, statt dass die Schwächeren Kompromisse schließen, und letztendlich kommt bei irgendwelchen Abiturstandards der Kompromiss des Kompromisses des Kompromisses heraus.
Hanselmann: Hören wir doch noch mal kurz rein in unser Interview mit Richard David Precht von heute früh. Er möchte nämlich auch das Lehrerdasein revolutionieren.
Precht: Ich schlage vor, dass Lehrer die Chance haben müssen, im Team zu unterrichten. Ich schlage vor, dass Lehrer alle vier Jahre mal eine Auszeit bekommen, in der sie die Batterien auftanken können, sich inspirieren lassen, was dann wieder seinen Niederschlag in neuen Projekten findet, ich will die Unterrichtsstundenzahl für Lehrer reduzieren. Ich will Lehrern Praktiker an die Seite stellen aus dem täglichen Leben - kurz gesagt, ich will richtig Leben, Kreativität, ja, einen viel abwechslungsreicheren Job aus dem Lehrerberuf machen. Nichts von dem, was ich sage, ist gegen den Lehrer gerichtet. Alles, was ich vorschlage, schlage ich für die Lehrer vor.
Hanselmann: Herr Kraus, das klingt doch prima!
Kraus: Also, ich wünsche mir auch mehr Zeit für Lehrer, damit sie sich sowohl um die besonders leistungsstarken wie auch um die besonders leistungsschwachen Schüler kümmern können. Von einem Sabbatjahr halte ich relativ wenig, und auch von der Forderung, Praktiker an die Seite gestellt zu bekommen. Herr Precht sollte sich mal anschauen, was wir etwa im Bereich unserer beruflichen Schulen, wo über 100.000 Lehrer unterrichten, Praktiker haben. Leute, die eine Berufsausbildung haben, die eng zusammenarbeiten mit den Kammern, mit den Lehrbetrieben und so weiter mehr.
Ich bedauere das übrigens sehr, dass auch Precht überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, dass ein großer sozialpolitischer und auch wirtschaftlicher Standortvorteil Deutschlands unser duales Ausbildungsprinzip ist. Und wenn er beklagt, dass wir einen zu engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsabschluss haben, dann soll er aber bitte auch zur Kenntnis nehmen, dass wir zusammen mit der Schweiz und mit Österreich die niedrigsten Quoten an arbeitslosen Jugendlichen haben, um den Faktor drei unterhalb dessen, was zum Beispiel der vermeintliche PISA-Sieger Finnland hat, nämlich fünf, sechs Prozent, Finnland über 20 Prozent. Also, es stört mich, wenn ich immer nur den Alarmknopf gedrückt sehe, und es stört mich, wenn ich nur Zerrbilder habe. Schule in Deutschland und Bildung in Deutschland ist erheblich besser, als es jetzt dargestellt wird.
Hanselmann: Letzte Frage, und Sie finden sicherlich eine kurze Antwort darauf: Herr Kraus, finden Sie einen solchen Beitrag zum Diskurs wie dieses Buch von Precht überhaupt sinnvoll oder halten Sie solch ein Buch für überflüssig?
Kraus: Wenn ich Angela Merkel hieße, würde ich jetzt platt sagen, es ist wenig hilfreich. Es ist ein Bauchladen an Vorschlägen und an Diagnosen. Und es sind viele Ladenhüter. Es ist, um drei Ecken herum, letztendlich die Forderung nach Errichtung einer Einheitsschule reformpädagogischer Prägung, wobei die Reformpädagogik ja in nichts bislang bewiesen hat, dass sie einer anderen, klassischen Pädagogik überlegen ist.
Hanselmann: "Wenig hilfreich" ist das neue Buch von Richard David Precht, findet Josef Kraus, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes. Einen schönen Tag noch, danke für das Gespräch!
Kraus: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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"Die Schulen sollten die Macht haben" - Schriftsteller Precht will Kompetenzen der Kultusminister einschränken