Priya Basil, 1977 in London/Großbritannien geboren, wuchs in Kenia auf und lebt heute in London und Berlin. Sie studierte Englische Literatur an der Universität von Bristol und arbeitete danach drei Jahre lang in der Werbebranche, bevor sie nach Berlin zog und dort an ihrem Debütroman ‘Ishq and Mushq‘ (2007) zu schreiben begann. 2010 erschien ihr zweiter Roman ‘Die Logik des Herzens‘ (dt. 2012), Außerdem veröffentlicht Basil regelmäßig Essays in renommierten Publikationen wie The Guardian, Lettre International und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Als Mitbegründerin der Initiative Authors for Peace und als Co-Autorin eines 2013 entstandenen Aufrufs von Schriftstellern gegen digitale Massenüberwachung engagiert sich Basil für politische Themen. Ihr literarisches Werk wurde u. a. für den Commonwealth Writers’ Prize, den Dylan Thomas Prize sowie den International IMPAC Dublin Literary Award nominiert.
Das fehlende Narrativ zu "Europa"
Unabhängig davon, wie das Referendum in Großbritannien ausgeht: In der Vorstellung vieler Menschen ist die EU bereits jetzt geschrumpft. Weil die Briten den Brexit nur als ökonomische Frage sehen. Daher vermisst Priya Basil in der Brexit-Debatte das Narrativ vom Wert Europas.
Wachstum - welche Assoziationen weckt dieses Wort? Wer die britische Rhetorik im Vorwege des EU-Referendums aufgesogen hat, dem drängt sich in Gedanken vermutlich ein weiteres Wort auf: "wirtschaftlich".
Sie blitzen gemeinsam auf, diese siamesischen Silben, untrennbar, verschmolzen durch ein machtvolles Narrativ, die maßgebliche Erzählung des 21. Jahrhunderts: dass unsere Welt einzig und allein von einem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum abhängt. In Großbritannien hat sich die Ansicht verbreitet, man könne etwas nur dann wirklich wertschätzen, wenn man weiß, wieviel es kostet.
Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht wenig verwunderlich, dass das EU-Referendum in Großbritannien vor allem als ökonomische Angelegenheit verhandelt wird. Die Brexit-Gegner betonen vor allem, der Austritt aus der Europäischen Union werde der britischen Wirtschaft schaden; die Befürworter dagegen erwarten sich eine wirtschaftliche Blütezeit.
Der Preis einer Sache ist nicht ihr Wert
Die Briten wurden mit dem Preis von allem und jedem bombardiert und haben darüber den Sinn für den Wert einer Sache verloren. Dennoch hat dieser geldgesinnte Chor die öffentliche Meinung nicht entscheidend in die eine oder die andere Richtung verschoben. Also wird jetzt das Thema Einwanderung ins Rampenlicht gezerrt, im Gewand von Grenzschutz und Nationaler Sicherheit.
Bedauerlicherweise hat Großbritannien nie eine gemeinschaftsstärkende Erzählung gefunden, eine, die vermitteln würde, was es heißt, ein europäischer Bürger zu sein, nicht nur ein britischer.
Erst als ich Großbritannien verlassen hatte, wurde mir klar, dass es auch ein anderes Narrativ gibt. In Deutschland habe ich meine europäische Identität gefunden – Zugehörigkeit bekam für mich eine viel umfassendere Bedeutung. Dieses Narrativ lässt für "Wachstum" viele Definitionen zu, die über Besitz und Vermögen weit hinausgehen. Ich kenne eine Geschichte der Europäischen Union, in der "Wachstum" folgendes bedeutet:
- die Erweiterung des Geistes durch die Entdeckung neuer Ideen;
- die Öffnung der Herzen durch die Begegnung mit neuen Menschen;
- die Einsicht, dass alles mit allem zusammenhängt und dass die einzig lohnenswerte Zukunft in einem gerechteren globalen Miteinander liegt.
Die EU als epische Erzählung
Die EU ist eine wuchernde Chronik, und ich selbst spiele darin nur eine winzige Rolle. Wie jede Erzählung hat sie ihre helleren und dunkleren Seiten. Wir sehen mehr, wenn wir begreifen, dass es da draußen eine viel größere Geschichte gibt, ein im Entstehen begriffenes Epos.
Mit dem aktuellen Abkommen, das David Cameron ausgehandelt hat, wird Großbritannien – selbst wenn es Mitglied der EU bleibt – nicht wirklich "drin" sein, sondern eher "halb-drin". Ganz gleich, welches Wachstum gerade versprochen wird, dieses Referendum hat die EU in der allgemeinen Vorstellung bereits schrumpfen lassen und jeden Einzelnen geschwächt, indem es unsere Diskurse zersetzt hat.
Denn unser Vokabular zu beschneiden, heißt zwangsläufig auch, uns selbst zu beschneiden. Und die Geschichten, die wir erzählen, werden die Geschichten, die wir leben.
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender