"Eine schöne ironische Wendung"
Bisher war der Begriff der "Leitkultur" eher Konservativen vorbehalten. Wenn jetzt der Berliner SPD-Politiker Raed Saleh von deutscher Leitkultur spricht, sei das "eine schöne ironische Wendung", meint der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche Johann Claussen.
Als Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vor einigen Wochen in einem Beitrag in der "Bild am Sonntag" den Begriff der deutschen "Leitkultur" wiederbelebte, war die Empörung unter Linken und Liberalen groß. Doch was, wenn jetzt ein Sozialdemokrat mit Migrationshintergrund wie der Berliner SPD-Fraktionsvorsitzende Raed Saleh in seinem Buch "Ich deutsch" seinerseits versucht, eine "deutsche Leitkultur" zu definieren?
"Es ist natürlich erstmal eine schöne ironische Wendung, dass der nun eigentlich schon von vielen begrabene Begriff der Leitkultur plötzlich von ganz anderer Seite her ausgebuddelt wird", sagte der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Claussen, im Deutschlandfunk Kultur. Und es sei insofern hilfreich, weil man das von jemandem mit Migrationshintergrund nicht sofort erwarte. "Das löst nochmal ein anderes Zuhören aus, als wenn es Herr de Maizière sagt."
Wie privat ist die christliche Religion in Deutschland?
Was Saleh inhaltlich sage, finde er total einleuchtend, so Claussen: "Wenn wir als Deutsche andere Menschen in unser Land aufnehmen, müssen wir ihnen ein Angebot machen und uns vor allen Dingen selber über das verständigen, was wir eigentlich sind." Was die Rolle der Religion in der Gesellschaft angehe, frage er sich allerdings, ob Saleh tatsächlich verstanden habe, was bisher in Deutschland Religionskultur sei. "Ohne dass ich das jetzt Leitkultur nenne, haben wir doch in Deutschland eine besondere Religionskultur, die jetzt nicht nur darauf zielt, dass Religion irgendwie komplett privat ist, sondern eben dass sie auch öffentlich sichtbar und wahrnehmbar ist."
Er finde es sinnvoll, dieses bundesrepublikanische Modell fortzuschreiben und zu pluralisieren: "Das geht immer mit dem Zuschreiben von Rechten und von Pflichten. So hat es ja auch mit den christlichen Konfessionen funktioniert: ihnen wurde eine Möglichkeit gegeben, sich im öffentlichen Raum zu betätigen unter der Voraussetzung, dass sie sich den rechtlichen Rahmenbedingungen und Zivilisationsstandards einfügen. Ich wüsste nicht, warum das im Islam grundsätzlich nicht gehen sollte."
Die Skepsis gegenüber dem Begriff "Leitkultur" bleibt
Dem Begriff der "Leitkultur" steht Claussen weiterhin skeptisch gegenüber. Er habe immer "ein bisschen Bauchschmerzen", wenn solche Kulturbegriffe sofort für den politischen Kampf benutzt würden. Und noch kein Konservativer habe so richtig erklären können, was dieser Begriff eigentlich inhaltlich bedeute. Außerdem dem gehe der Begriff von der "seltsamen Dominanz" eines bestimmten Milieus aus, "das dann definiert, was die Leitkultur ist, und die anderen lassen sich dann leiten".
(uko)
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Die Debatte um eine deutsche Leitkultur ist wahrhaftig nicht neu, sie ist aber auch noch längst nicht zu Ende. Der Bundesinnenminister hatte erst vor wenigen Wochen ein neues Kapitel aufgeschlagen in dieser Debatte, allerdings ist das jetzt das vorletzte Kapitel. Das letzte, das neueste kommt vom Fraktionsvorsitzenden der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, der ein Buch über deutsche Leitkultur geschrieben hat, und der gestern live bei uns in der Sendung "Im Gespräch" erklärt hat, warum er das für notwendig und richtig hält.
Raed Saleh: Wir müssen versuchen, das, was uns wertvoll ist, das, was uns Deutsche ausmacht, einmal zu definieren. Wie können Sie denn einladend wirken, wie können Sie denn Menschen auf die Reise mitnehmen, wenn wir selbst gar nicht wissen, was es ist zurzeit, ein Deutscher zu sein. Und da gibt es viele Punkte, die man verschmelzen kann: Grundgesetz, Menschenrechtscharta, Kinderrechtskonvention, das Umweltbewusstsein. Wir sind da schon weiter. Ich würde gern wollen, dass man dieses Umweltbewusstsein, das Thema Tierschutz, auch weitergibt den Neuen, die zu uns kommen. Meine Leitkultur richtet sich nicht an diejenigen, die neu zu uns kommen, sondern es gilt gleichermaßen für diejenigen, die hier sind, und für diejenigen, die zu uns kamen, und sie hat vor allem eines: Eine breite Unterstützung einer Mitte, und sie zeigt klar, dass die Ränder, die Extremisten, egal von links, egal ob Islamisten, egal ob von rechts, bei uns, in unserer Leitkultur keinen Platz haben.
Kassel: Das hat Raed Saleh gestern in unserer Sendung "Im Gespräch" gesagt. Heute erscheint offiziell das Buch von Raed Saleh: "Ich deutsch. Die neue Leitkultur" heißt es, und wir wollen das jetzt zum Anlass nehmen, um mit Johann Claussen zu sprechen. Er ist der Kulturbeauftragte des Rats der evangelischen Kirche in Deutschland. Herr Claussen, schönen guten Morgen!
Johann Claussen: Guten Morgen!
Inhaltlich "total einleuchtend"
Kassel: Wenn Sie das hören, was wir gerade gehört haben, was Saleh unter Leitkultur versteht, von der Kinderrechtscharta bis zum Umweltschutz, sagen Sie dann, na ja, so eine Leitkultur kann ich mir schon vorstellen?
Claussen: Es ist natürlich erst mal eine schöne ironische Wendung, dass der nun eigentlich von vielen begrabene Begriff der Leitkultur plötzlich von ganz anderer Seite her ausgebuddelt wird. Die Frage ist, was ist sozusagen dann der Begriff, und was ist der Inhalt? Was er inhaltlich sagt, finde ich total einleuchtend. Wenn wir als Deutsche andere Menschen in unser Land aufnehmen, müssen wir ihnen ein Angebot machen und uns vor allem selbst über das verständigen, was wir eigentlich sind. Ob man das dann als Leitkultur bezeichnet, würde ich nochmal mit einem Fragezeichen versehen. Diese Herausforderung aber, das eigene zu definieren im Gegenüber zum sogenannten Fremden, und dann zu schauen, was dann passiert, das, finde ich, ist eine total sinnvolle Diskussion. Und dass sie von Herrn Saleh auf so eine neue Weise in die Debatte gebracht wird, finde ich sehr vernünftig.
Kassel: Aber warum haben Sie – das hört sich für mich jetzt nämlich so an –, warum haben Sie immer noch dieses Grundproblem mit dem Wort, mit dem Wort Leitkultur?
Claussen: Ach, diese Worte sind natürlich auch ein bisschen Schall und Rauch, aber wo ich ein bisschen Bauchschmerzen habe, ist, dass, wenn solche Kulturbegriffe sofort für den politischen Kampf benutzt werden. Und "Leitkultur" ist eingeführt worden als ein politischer Kampfbegriff und immer auch verbunden mit Ausgrenzungsdiskursen. Dahinter steckt natürlich die vernünftige Frage, wollen wir eigentlich auch Assimilation, oder wollen wir sozusagen eine freie Inklusion oder Integration von Menschen, also wollen wir den Neuzugezogenen klare Angebote, aber auch sozusagen Pflichten entgegenstellen, an die nach denen sie sich richten können. Ich weiß nicht, ob dieser Begriff der Leitkultur so hilfreich ist, weil ich erstens noch nicht verstanden habe, was er eigentlich wirklich bedeutet, das hat noch kein Konservativer so richtig erklären können, und zweitens, weil er doch immer noch von einer seltsamen Dominanz eines bestimmten Milieus ausgeht, das dann definiert, was die Leitkultur ist, und die anderen lassen sich dann leiten.
Leitkulturbegriff löst "Rechts-Links-Pingpong" aus
Kassel: Aber das verstehe ich ehrlich gesagt bei Raed Saleh nicht so. Der hat ja zum Beispiel auch Dinge gesagt, wo ich glaube, einige der Konservativen, die mit dem Wort kein Problem haben, werden mit seinen Ansichten schon Probleme haben. Zum Beispiel sagt er ja auch in seinem Buch, er möchte, dass der Islam völlig gleichberechtigt neben dem Christentum und auch dem Judentum in Deutschland steht. Dann kommt er aber wieder mit seiner Leitkultur und sagt, er möchte aber, dass all diese Religionen weitestgehend Privatsache sind und dass sie sich dem Grundgesetz und anderen Regeln unterordnen.
Claussen: Genau. Also das ist natürlich jetzt ein bisschen auch Begriffsmarketing, und dann geht das hin und her. Grundsätzlich finde ich, weil ich selbst mitgearbeitet habe mit vielen anderen Institutionen, vor Kurzem, geführt vom Deutschen Kulturrat haben wir 15 Thesen mal formuliert, was Kultur zur Integration leisten kann. Und da gibt es eine ganze Menge Punkte, die auch ganz schön steil sind eigentlich und gar nicht so wischi-waschi-liberal, sondern schon echte Herausforderungen darstellen für Menschen, die aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen.
Aber wir haben halt bewusst verzichtet auf diesen Begriff, weil er immer so ein Links-rechts-Pingpong auslöst, das nun Herr Saleh ein bisschen umgedreht hat, und wo bei dem Religionsthema ich auch die Frage habe, ob er tatsächlich verstanden hat, was bisher so in Deutschland Religionskultur ist – ohne, dass ich das jetzt Leitkultur nenne, haben wir doch in Deutschland eine besondere Religionskultur, die jetzt nicht nur darauf zielt, dass Religion irgendwie komplett privat ist, sondern dass sie auch öffentlich sichtbar und wahrnehmbar ist.
Kassel: Aber kann man in diese Religionskultur, wie Sie das gerade genannt haben, den Islam problemlos einbeziehen?
Claussen: Problemlos geht nichts im Leben, aber ich finde es sinnvoll, das alte bundesrepublikanische Modell fortzuschreiben und zu pluralisieren, und das geht immer mit dem Zuschreiben von Rechten und von Pflichten. So hat es ja auch mit den christlichen Konfessionen funktioniert. Ihnen wurde eine Möglichkeit gegeben, sich im öffentlichen Raum zu betätigen unter der Voraussetzung, dass sie sich in die rechtlichen Rahmenbedingungen und Zivilisationsstandards einfügen. Ich wüsste nicht, warum das im Islam grundsätzlich nicht gehen sollte. Man muss ja immer ein bisschen aufpassen vor so Zuschreibungen, dass der Islam immer so ist und nicht anders. Da würde ich auf den historischen Prozess in Deutschland auch ein bisschen Vertrauen setzen.
Klare Angebote und Spielregeln
Kassel: Nun kann ich verstehen, wenn viele Leute sagen, Leitkultur, das riecht auch ein bisschen muffig, wenn damit Goethe, Gemütlichkeit und Ähnliches gemeint ist. Meinen Sie mit Ihren Kulturratsthesen nicht, meint Saleh auch nicht. Er wird da sehr konkret. Lassen Sie uns ganz kurz noch mal eines seiner Beispiele für das, was für ihn Leitkultur sein soll, hören:
Saleh: Wenn eine Million Menschen zu uns kommen, die vorher hier nicht gelebt haben, dann muss man ihnen schnell vermitteln, dass es bei uns normal ist, dass man die Kinder nicht mit Gewalt erzieht. Das kann man machen, indem man den Menschen ein Grundgesetz in die Hand drückt. Aber ein Grundgesetz, das sind kalte Buchstaben. Man muss in der Leitkultur im Grunde genommen den Alltag formulieren. Natürlich wurde auch bei uns in Deutschland vor vielen – war es normal, dass die Kinder mit Gewalt erzogen wurden. Aber mittlerweile sind wir weiter. Wollen wir 15, 20 Jahre warten, bis bei den Menschen es Konsens ist, dass man die Kinder nicht mit Gewalt erzieht, oder bringen wir ihnen das bei, schneller auch Vertrauen zu finden in uns, in unser System?
Kassel: Was sagen Sie da? Sagen Sie mir jetzt wieder, ich stimme inhaltlich überein, aber selbst das darf man nicht Leitkultur nennen? Oder ist es dann nicht okay?
Claussen: Soll er es nennen, wie er es will. Ich finde, inhaltlich ist es richtig. Ich finde es sinnvoll, klare Angebote und klare Spielregeln zu formulieren, an die dann Menschen, die hierherkommen, sich auch orientieren können. Ganz schön war, dass unsere evangelische Zeitschrift "chrismon" relativ bald auf Arabisch und Farsi eine Sondernummer herausgegeben hat, um ihnen ein paar Dinge über Deutschland zu erklären, den Geflüchteten. Das finde ich sehr sinnvoll, das ist auch schon deutlich, aber es ist einladend und auch irgendwie klärend. Menschen, die hierher kommen, müssen sich orientieren, und ich finde, da kann man sagen, was wir heute unter unserer Kultur, ob Leit- oder nicht Leit-, verstehen. Dabei müssen wir halt selbst nur wissen, dass diese sich eben auch historisch entwickelt hat. Das hat ja Herr Saleh gerade in dem O-Ton sehr präzise beschrieben. Auch unsere eigene Leitkultur oder Kultur ist ja nichts Statisches, sondern sie entwickelt sich, und ist aber nicht einfach beliebig oder steht zur Disposition, sondern es gibt Zivilisationsstandards, die wir erreicht haben. An denen wollen wir festhalten. Und wer hierher kommt, ist herzlich eingeladen und auch aufgefordert, sich daran zu halten. Ob man das nun so oder so nennt, ist mir egal. Ich finde es insofern hilfreich, dass er es sagt, weil er es sozusagen natürlich auch mit migrantischem Hintergrund man es nicht sofort erwartet. Das löst nochmal ein anderes Zuhören aus, als wenn es Herr de Maizière sagt.
"Sinnvoll", wenn die Diskussion sich noch einmal anders dreht
Kassel: Herr Claussen, ich habe gerade ein bisschen gelacht. Ich will das erklären, nicht, dass Sie da sich beleidigt fühlen. Ich habe nur gelacht, weil Sie ja eigentlich das Wort "Leitkultur" nicht mögen – so wie Atheisten aus Versehen immer sagen, "um Gottes willen", so ist Ihnen jetzt gerade das Wort "Leitkultur" rausgerutscht. Es macht ja nichts. Halten wir fest, wir finden nicht wirklich was Besseres, egal, ob wir das Wort mögen oder nicht.
Claussen: Also ich finde den Kulturbegriff an und für sich schön. Man muss jetzt hier auch keinen terminologischen Putzzwang ausüben, aber ich finde – ich habe Spaß und finde es sinnvoll, wenn solche Diskussionen sich noch mal anders drehen, das ist jetzt passiert, und nicht die erwartbaren Links-rechts-Positionen gegeneinander kommen.
Kassel: Die kommen wahrscheinlich trotzdem gegeneinander, das können wir beide auch nicht verhindern. Aber wir haben das jetzt vermieden. Danke schön! Johann Claussen war das, der Kulturbeauftragte der evangelischen Kirche in Deutschland. Danke und einen schönen Dienstag noch.
Claussen: Ihnen auch. Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.