Debatte um EU

Europa ist wunschlos unglücklich

Eine Europaflagge weht am 06.07.2015 auf dem Dach des Deutschen Bundestages, dem Reichstagsgebäude, in Berlin vor dunklen Wolken.
Die Idee Europas ist in Gefahr, meint Daniel Tyradellis. © Bernd von Jutrczenka,dpa picture-alliance
Von Daniel Tyradellis |
Statt unzufrieden ihr Geld zu horten, sollten wohlhabende Europäer in Kulturprojekte investieren, meint der Philosoph Daniel Tyradellis. Denn nur durch das Mittel der Kunst ließe sich eine humane Identität entwickeln und die europäische Idee verwirklichen.
"Nichts ist dringender", sagte der Künstler Joseph Beuys, "nichts ist dringender gerade für uns Mitteleuropäer, als uns über unsere Zukunft im Klaren zu sein; ob es für uns interessant ist, mit den Großmächten im Osten und im Westen auf wirtschaftlicher Basis zu konkurrieren; ob es nicht vielleicht für Mitteleuropa viel interessanter wäre, die humanen Fragen in den Mittelpunkt zu stellen als ein Fruchtbares für die ganze Welt."
Das war 1970, doch die Frage hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Die Antwort und Bilanz ist allerdings ernüchternd.
Eine humane Identität fehlt
Es ist nicht gelungen, eine solche humane Identität zu entwickeln. Vielmehr sind es gerade die Mitteleuropäer, die im Namen wirtschaftlicher Prosperität die geografisch und ökonomisch randständigen Mitglieder der Europäischen Union restlos in die Logik von Markt und Kapital hineinzwingen, der sie selbst schon längst unterliegen.
Aus rein ökonomischer Perspektive kann das auch gar nicht anders sein, denn der Reichtum, den Länder wie Deutschland oder Frankreich angehäuft haben, existiert nur dann, wenn jemand die Waren kauft, die sie produzieren. Am besten mit dem Geld, das man ihnen dazu leiht.
Schlimmer als die damit verbundene ökonomische Bigotterie ist allerdings die Tatsache, dass diese wirtschaftliche Logik jedes andere Argument in die Defensive gedrängt hat. Es wäre deshalb illusorisch, die Beuys'sche Idee Europa gegen solche ökonomischen Argumente zu stellen. Es kann es nur darum gehen, sich in die Wirtschaftslogik einzunisten und sie aus dem Innern heraus zu verändern.
Geld ist vorhanden, aber Konsum ist nicht alles
Der Dreh- und Angelpunkt dafür sind die Wünsche der Menschen. Ohne sie ist das Geld buchstäblich nichts wert. Denn Geld ist nichts anderes als aufgeschobene Wunscherfüllung, gespeichert auf einer Plastikkarte im Portemonnaie. Die Idee Europa sollte dieses Reservoir anzapfen. Aller Rede von der Krise zum Trotz ist der Zeitpunkt dafür günstig wie nie.
Nie zuvor haben in Deutschland Privatpersonen mehr Geld für Dinge ausgegeben, die keine elementaren Bedürfnisse befriedigen. Nie hatten die Deutschen mehr gespartes Geld auf ihren Konten als heute. Allein das liquide Privatvermögen beläuft sich auf fünf Billionen Euro, acht Mal mehr als zurzeit von Joseph Beuys.
Es fehlt nicht das Geld, sondern die Bereitschaft, es auszugeben. Europa ist wunschlos unglücklich, weil es sich die Autorität über seine Wünsche hat nehmen lassen und doch spürt, dass Konsum nicht alles ist.
Kultur sollte die Idee eines reichen, sozialen Europa sein
Das einzig verbliebene Mittel, diese Autorität wiederzuerlangen, ist Kultur. Damit meine ich nicht diese Schwundform, die uns im Formatkino und Formatfernsehen genauso verkauft wird wie ein überall auf der Welt erhältlicher Schokoriegel, als nettes Beiwerk und Kompensation von den Anstrengungen des Alltags. Kultur ist vielmehr ein Begriff für konkrete Anlässe des sozialen Miteinanders, in denen die Widersprüche, Träume, Ängste und Wünsche der Menschen zur Sprache kommen.
Kunstwerke, Theater, Ausstellungen oder Konzerte dienen nicht vorgefertigten Zwecken, sondern verhandeln ihren Sinn und ihre Bedeutung in jedem einzelnen Fall neu. Sie sind nicht zu trennen von den Menschen, die an ihr teilhaben.
Doch Kultur hat man nicht einfach so, man muss sie auch erlernen und pflegen. Je mehr Kultur ich habe, desto mehr wünsche ich mir davon. Je weniger ich davon habe, umso weniger bemerke ich, dass sie mir fehlt. Und je mehr Kultur wir uns wünschen, desto mehr ist der Markt gezwungen, diesem Wunsch zu folgen.
Dies wäre das soziale Antlitz eines reichen Europa. Ein Antlitz, das sich rechnet. Das wäre die Idee Europa. Ohne diese bliebe nur das ökonomische Denken, das zwar die Grundlage eines Zusammenlebens bildet, aber nicht sein Ziel sein kann, weder in Europa noch anderswo.
Daniel Tyradellis, geboren 1969 in Köln, ist Philosoph und Kurator. Er forscht und veröffentlicht zu Immanenzphilosophie und zu Theorie und Praxis des Kuratorischen: u.a. das Gespräch "Was heißt uns Denken?" mit Jean-Luc Nancy (2013) und das Buch "Müde Museen" (2014).
Für Häuser wie das "Jüdische Museum" und den "Hamburger Bahnhof" in Berlin, für die "Deichtorhallen" in Hamburg oder das "Deutsche Hygiene-Museum" in Dresden hat Tyradellis Ausstellungen über Themen wie Schmerz, Wunder, Reichtum oder Freundschaft entwickelt.
Er versteht die Exhibitionen als philosophische Experimente eines Denkens im Raum. Gegenwärtig bereitet Tyradellis eine Ausstellung über Scham vor und ein Buch über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft.
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