Debatte um europäische Annäherung

Welches Europa wollen wir?

Verschiedenfarbige Köpfe, im Hintergrund: Sterne der EU-Flagge.
"Die Gleichsetzung von EU und Europa schadet der Vielfalt unseres Kontinents", sagt Klaus Rüdiger Mai. © imago/Ikon Images
Von Klaus Rüdiger Mai · 23.10.2017
Während man sich in Deutschland noch in Sachen Regierungsbildung abmüht, macht Emanuel Macron Druck. Er will ein neues Kapitel in Europa aufmachen. Und das möglichst bald. Davon sollte man sich nicht beeinflussen lassen meint allerdings der Publizist und Historiker Klaus Rüdiger Mai.
Der französische Präsident warnt, für die Vertiefung der EU, die er eine "Neugründung Europas" nennt, würde, wenn man jetzt nicht zügig voran käme, die Zeit weglaufen. In Brüssel und Paris spricht man von einem Zeitfenster von zwei Jahren. Angesichts der Eile, die von Emmanuel Macron, aber auch von Jean-Claude Juncker an den Tag gelegt wird, um ein Zentralstaatseuropa zu schaffen, ist es Zeit für ein Moratorium, in dem frei und offen debattiert wird, denn es ist doch besser, das gute kommt später, als das schlechte sofort.

Gleichsetzung von EU und Europa schadet der Vielfalt

Heinrich August Winkler hat auf die gravierenden Demokratiedefizite der Institutionen der EU hingewiesen, dabei ist die Demokratie die DNS Europas. Die Gleichsetzung von EU und Europa - als könne es nur eine Form von Europa geben - schadet der Vielfalt unseres Kontinents, denn natürlich existieren verschiedene Möglichkeiten des Zusammenlebens. Es geht an der Sache vorbei, diejenigen, die Kritik an der Brüsseler Bürokratie üben, als Nationalisten, als Europaskeptiker zu diskreditieren.

Durch die Hintertür zum Zentralstaat

Die Bürger Europas haben das Recht, denn sie sind der Souverän, über die Art und Weise, wie sie leben wollen, zu entscheiden. Freilich kollidiert das mit einem Politikstil, den Jean-Claude Junker einmal so beschrieb: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." So haben beispielsweise "die meisten nicht begriffen", dass die Einführung des Euros den Einstieg durch die Hintertür in einen europäischen Zentralstaat bedeutet, denn es existiert keine Währung ohne Staat: die gemeinsame Währung erzwingt den gemeinsamen Staat. Angela Merkel verkündete: Scheitert der Euro, scheitert Europa - als ob Europa nur eine Währungs- und keine Werteunion sei. Der EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos verblüffte vor kurzem mit der Äußerung: "Wenn Schengen stirbt, wird Europa sterben". Frank-Walter Steinmeier begreift in seinem Europa-Buch Europa als Notgemeinschaft, zu der man sich angesichts der Globalisierung zusammenfinden muss.

Vertiefung der EU = Vertiefung der Probleme

Scheitern, Sterben, Not. Wirft man einen Blick hinter die großen Worte, dann wird die Dramatik der Situation schnell deutlich: Scheitert der Euro, sitzt die Bundesbank auf ca. 800 Milliarden Euro Targetsalden, also auf Forderungen, die sie nicht eintreiben kann. Hinzu kommen die Verluste der Pensionskassen und Versicherungen, die einen nicht geringen Teil ihrer Gelder in Südeuropa angelegt haben. Die Vertiefung der EU wird nüchtern betrachtet die Vertiefung der Probleme zur Folge haben. Der als Friedensprojekt beworbene Euro führte zu einem Hass, den wir lange in Europa mehr gesehen haben, zu Schlagzeilen über "Pleite-Griechen" und zu Demonstrationen mit Transparenten, auf denen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble mit Hitlerbärtchen und Hakenkreuzarmbinden zu sehen waren.

Eine Fülle an Alternativen existiert

Es ist hohe Zeit, eine Debatte abseits von Ideologien und Tabus über Europa, einen Wettstreit der Konzepte zu führen, die von der Vorstellung eines auf christlichen Werten beruhenden Europas, wie sie von dem Philosophen Robert Spaemann vertreten wird, bis hin zu Emmanuel Macrons Zentralstaatsidee reichen. Dabei ist es allerdings zu vermeiden, mit Phrasen oder düsteren Szenarien um sich zu werfen, den anderen zu diskreditieren, einer Alternativlosigkeit das Wort zu reden, wo doch die Fülle an Alternativen existiert. Historisch sind in Europa alle Universalstaatsideen gescheitert. Der Grund für Europas Erfolg findet sich in der Regionalität und im Facettenreichtum unseres Kontinents. Wie das zusammenkommt, ist die eigentlich spannende Frage.

Klaus-Rüdiger Mai, geboren 1963, Dr. phil., Schriftsteller und Historiker, verfasste historische Sachbücher, Biographien und Essays, sowie historische Romane. Sein Spezialgebiet ist die europäische Geschichte und Gegenwart. Zuletzt erschienen von ihm der Essay "Gehört Luther zu Deutschland?" und die Biographie "Gutenberg. Der Mann, der die Welt veränderte".

© privat
Mehr zum Thema