Susanne Gaschke ist Journalistin und Publizistin. Sie war lange Jahre Redakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit". Heute schreibt sie für "Die Welt" und die "Welt am Sonntag". In ihrem 2014 erschienen Buch "Volles Risiko. Was es bedeutet, in die Politik zu gehen" hat sie ihre Erfahrungen als Kieler Oberbürgermeisterin dargestellt.
Heimat ist nicht nur ein Ort
Was hat Horst Seehofer als Heimatminister vor? Zumindest nehme er die Überforderungen der Menschen in den Blick, meint die Journalistin Susanne Gaschke: Jedenfalls sei das einem "FAZ"-Gastbeitrag des CSU-Politikers so zu entnehmen.
Weinliebhaber trainieren manchmal ihre Fähigkeit, die unterschiedlichen Duftnoten von Weinen zu erkennen. Dafür gibt es Sets mit kleinen Glasfläschchen, die ätherische Öle enthalten. Ein solches Fläschchen katapultierte mich neulich in die Vergangenheit. Ich schnupperte daran und fand mich – noch bevor mein Gehirn ein einziges Wort geformt hatte – im sommerwarmen Garten meiner Großeltern wieder. Das Fläschchen hatte nach Teer gerochen – so wie die sonnenbeschienene Dachpappe auf dem Gartenschuppen. Ein Heimat-Flash.
Deutschland erlebt gerade, nicht zum ersten Mal, eine Debatte um den Heimatbegriff. Auslöser war dieses mal Horst Seehofers neues Heimatministerium.
Kein Tarnbegriff für Fremdenfeindlichkeit
Etliche Kommentatoren sind überzeugt, dass es sich dabei in Wahrheit um ein Anti-AfD-Ministerium handelt. Sie halten Heimat für einen rechtspopulistischen Begriff, und die Sehnsucht nach ihr für "irreal" und "rückwärtsgewandt". Es gibt Linksliberale, die den Heimatbegriff regelrecht hassen, weil sie nur Enge und Spießigkeit damit verbinden. Für sie ist Heimat ein Tarnwort, das Fremdenfeindlichkeit maskieren soll.
Die große Mehrheit der Bevölkerung sieht das allerdings ganz anders. Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach denken 87 Prozent der Deutschen bei dem Wort Heimat an Kindheit und Familie, 84 Prozent an Freunde, 71 Prozent an Geborgenheit.
Heimat ist auch eine Zeit
Gefragt, worin sie mögliche Gefahren für ihre Heimat sähen, wählten spannender Weise 78 Prozent die Antwortmöglichkeit "dass viele alteingesessene Geschäfte schließen und dafür die immer gleichen Filialen großer Einkaufsketten aufmachen."
Dieses Ergebnis stützt eine Vermutung, die der Soziologe Hartmut Rosa schon vor ein paar Jahren formuliert hat: Dass nämlich Menschen, die sich "fremd im eigenen Land" fühlen (und davon gibt es, je nach Umfrage, zwischen 20 und 30 Prozent), dies nicht hauptsächlich oder gar ausschließlich wegen Zuwanderung und Flüchtlingskrise tun, sondern vor allem deshalb, weil sich alles – Innenstädte, Arbeitsverhältnisse, Beziehungen – in einem Tempo wandelt, das sich ungesund anfühlt. "Heimat ist anscheinend für viele Menschen nicht nur ein Ort, sondern auch eine Zeit", schreibt Thomas Petersen vom Allensbacher Institut: "Es ist nicht einfach Ort der Kindheit, sondern dieser Ort, so, wie er in der Kindheit war."
Woher kommen wir?
Es geht um die fundamentale, identitätsstiftende Frage, woher wir kommen. Abgeklärte kosmopolitische Fortschrittsfreunde könnten an dieser Stelle mit der ihnen zuweilen eigenen Unerbittlichkeit darauf hinweisen, dass auch Horst Seehofer den Deutschen ihre Kindheit nicht zurückgeben kann.
Einem klugen Aufsatz Seehofers in der "FAZ" konnte man allerdings vor kurzem entnehmen, dass er das auch gar nicht vorhat. Dass er aber sehr wohl die Überforderungen in den Blick nimmt, die Marktradikalismus, Disruption und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche ausgelöst haben.
Nicht jeder Wandel ist ein Gewinn
Letztlich ist das Nostalgieargument ein Totschlagargument – und damit im Kern unpolitisch. Denn natürlich kann liebevolle Kommunalpolitik etwas am Erscheinungsbild der Innenstädte ändern. Natürlich kann Politik der Wohnraumspekulation und dem Mietwahnsinn Grenzen setzen. Natürlich könnte sie Schulen wieder mit fest angestellten Hausmeistern und Krankenhäuser mit Pflegepersonal ausstatten, dessen Dienstpläne es auch gelegentlich zulassen, fünf Minuten mit den Patienten zu reden.
Heimat? Vielleicht heißt das ja einfach nur, den Gedanken zuzulassen, dass nicht jeder Wandel automatisch und für alle ein Gewinn ist. Wenn der Heimatminister es als seine Aufgabe begreift, die menschenfreundlichen Aspekte der bundesrepublikanischen Vergangenheit in eine zeitgemäße Politik zu übersetzen, dann wird er einen guten Job machen.