Zwischen nacktem Eigeninteresse und notwendiger Kooperation
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Solange nicht genug Impfstoff für alle da ist, werde es immer eine Priorisierung geben, sagt Sighard Neckel. Der Soziologe fordert, auch die Wohnlage und das Infektionsrisiko bei der Priorisierung zu berücksichtigen.
Liane von Billerbeck: Beim gestrigen Impfgipfel der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten sind zwar keine Entscheidungen getroffen worden, aber es ging um zwei Fragen, auf die man als einzelner Mensch ja sehr unterschiedlich reagieren kann: Sollen Geimpfte und Genesene mehr Rechte zurückbekommen und soll die Impfpriorisierung aufgehoben werden?
Die Antworten darauf könnten sowohl von Neid als auch von Solidarität geprägt sein. Es gibt auch Stimmen, die sagen, unsere Gesellschaft könne solche Bevorzugungen nicht aushalten. Bekanntlich ist es leichter, wenn alle gleich wenig haben, als wenn einige mehr und andere weniger haben. Wo zwischen diesen Polen steht unsere Gesellschaft gerade?
Um darüber zu reden, habe ich mich mit Professor Sighard Neckel verabredet. Der Soziologe hat in Hamburg eine Professur für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der dortigen Uni inne, und dazu gehört auch die Ungleichheitsforschung.
Mehr Rechte für Geimpfte und Genesene, Aufhebung der Impfpriorisierung und damit der bisher klaren Regeln, die eine gerecht scheinende Impfreihenfolge festgelegt haben – die aufzuheben, dafür ist eine gewisse Portion Gönnen-Können nötig. Ist das eine Entscheidung, die eine gute wäre in Ihren Augen?
Neckel: Ich finde, dass die öffentliche Diskussion um die Impfprioritäten auf einer doch fragwürdigen Voraussetzung beruht, denn solange es nicht genügend Impfstoff für alle gibt und solange es nicht auch eine ausreichende Infrastruktur der Gleichverteilung von Impfstoff gibt, wird es immer eine Priorisierung geben. Das heißt, man kann sich immer nur aussuchen: Besteht diese Priorisierung aufgrund einer Entscheidung, die man begründen muss, wie etwa dann die Bundesregierung aufgrund der Empfehlungen des Ethikrates, und die auch kritisiert werden kann?
Oder kommt es zu einer Priorisierung einfach nur durch die naturwüchsige Durchsetzung der Stärkeren, was sich dann jeder Begründung enthält, der Beobachtung enthält und sich auch der Kritik entziehen kann. Und dann geht es bei der Priorisierung eigentlich nur darum, ob ich in bessergestellten Stadtvierteln mit einer sehr guten Ausstattung von Hausärzten wohne, sodass ich mir aussuchen kann, wo ich die Spritze bekomme, oder wohne ich etwa, wie das in Hamburg der Fall ist, in ärmeren Stadtteilen, wo das Infektionsrisiko sechsmal so groß ist wie in anderen Stadtteilen, die aber dreimal weniger Hausarztpraxen haben. Auch das ist eine Priorisierung, und ich finde, das müsste man berücksichtigen.
Eigeninteresse und Rücksichtnahme bedingen einander
von Billerbeck: Die Gesellschaft sei durch Corona egoistischer geworden, das meinte die Mehrheit der Befragten in einem COVID-Snapshot-Monitoring der Uni Erfurt. Sehen Sie das auch so, ist die Frage nach Altruismus oder Egoismus im Moment überhaupt die richtige?
Neckel: Nein, ich glaube, das Verhalten in der Pandemie steht immer zwischen diesen beiden Polen, also zwischen dem nackten Eigeninteresse – schließlich geht es um die eigene Gesundheit und um die Gesundheit derjenigen, die einem nahestehen – und einer notwendigen Kooperation in einer Pandemie, weil eine Seuche zeigt, da sind wir gegenseitig abhängig voneinander. Zwischen diesen Polen bewegt sich immer das Verhalten.
Ich glaube, die öffentliche Diskussion ist insofern auch ein bisschen falsch gelaufen mit dieser Polarisierung, weil man sagen kann, dass man auf das Eigeninteresse gar nicht verzichten muss, wenn man mit anderen kooperiert und wenn man Rücksichtnahme übt, weil man ja durch die Rücksichtnahme, indem man zum Beispiel konkret anderen eine gleiche Chance zur Impfung einräumt, auch sein eigenes Infektionsrisiko senkt.
Das heißt, das Eigeninteresse, das auch verständlich ist, weil es um die eigene Gesundheit geht, und die Rücksichtnahme auf andere schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern sie bedingen sogar einander, es sei denn, man gehört oder man glaubt, zu denen zu gehören, die der Rücksichtnahme auf andere nicht bedürfen, weil sie meinen, so stark zu sein, sich so stark von allen anderen isolieren zu können, so für sich zu leben, in Unabhängigkeit zu leben und nicht in einer wechselseitigen Verschränkung, dass man auf die anderen nicht angewiesen ist. Aber die meisten in unserer Gesellschaft können das von sich nicht sagen.
Bessere Entscheidungen statt moralischer Botschaften
von Billerbeck: Nun könnte man ja auch sagen, Politik braucht vielleicht einfach nur eine andere Kommunikation, also statt auf Solidarität und Altruismus zu pochen, um trotzdem konstruktive Ergebnisse zu erzielen. Wird da zu sehr an Werte und Emotionen appelliert, wo kaltes Vorrechnen von individuellem Nutzen, wie Sie es ja eben getan haben, auch angebracht wäre?
Neckel: Es gibt ein wohlverstandenes Eigeninteresse, das man durchaus berücksichtigen darf, und da kommt man sicherlich auch nicht weiter, wenn man jetzt moralische Botschaften aussendet, die aber tatsächlich dann auch nicht die Probleme lösen können. Aber ich glaube, wir brauchen nicht nur einfach eine andere Kommunikation, sondern – und das ist ja auch der Grund, warum die Impfpriorisierung in der Bevölkerung jetzt mittlerweile so unbeliebt ist, wenn man den Umfragen glauben darf – wir brauchen auch bessere Entscheidungen.
Dazu gehört etwa, dass man bei der Impfpriorisierung nicht nur darauf abstellt, welche Altersgruppen jetzt besonders gefährdet sind, welche Berufsgruppen und welche Vorerkrankungen besonders wichtig sind, sondern dass man auch berücksichtigt, dass das Infektionsrisiko nicht nur nach diesen Kriterien sehr unterschiedlich verteilt ist, sondern auch nach der gesellschaftlichen Lage, nach der Soziallage von Bevölkerungen, konkret nach bestimmten Stadtteilen und Regionen, und darauf sollte man viel stärker achten.
Toxisches Meinungsklima und tiefere Gräben
von Billerbeck: Nun gab es ja auch vor der Pandemie soziale Unterschiede und Gräben und Stoff für Streit – erleben wir gerade, dass die Gräben tiefer werden? Vielleicht macht die Pandemie auch die Gräben einfach sichtbarer, die schon vorher da waren?
Neckel: Das ist richtig, wir sprechen ja häufig davon, dass die Pandemie so eine Art Lupeneffekt hat, das heißt, dass wir die Ungleichheiten und die Brüche und Fragmentierungen in unserer Gesellschaft, die es schon vorher gab, deutlicher sehen. Und sie haben sich noch einmal vertieft – das, was ich als eine Art von sozialem Separatismus bezeichne, dass sich immer mehr Lebenswirklichkeiten voneinander abspalten in der Gesellschaft, dass die eine Lebensrealität der anderen gar nicht mehr vor Augen steht, wie zum Beispiel in diesen Stadtteilen, die im Grunde genommen eine mangelhafte ärztliche Versorgung haben, das steht vielen gar nicht vor Augen.
Dass das so ist, das hat sich in der Tat verschärft und das hat sich vertieft, und da trägt die Pandemie selbst noch einmal dazu bei, dass sich diese Fragmentierungen und die Ungleichheit noch einmal verstärken werden. Und hinzu kommt natürlich, dass jetzt der öffentliche Streit um die richtige Umgangsweise mit der Pandemie, um die Regierungspolitik, zu einer starken Polarisierung von Meinungen und manchmal zu einem wirklich toxischen Meinungsklima von gegenseitiger Feindseligkeit geführt hat, wie wir das bisher selten gehabt haben.
Keine Regierung wird eine klare Perspektive geben können
von Billerbeck: Sind Sie eigentlich zufrieden mit dem, was die Regierung da tut – die hat ja gestern Optimismus verbreitet. Tut sie genug, um den Spaltungen entgegenzuwirken?
Neckel: Nein, weil sie nicht berücksichtigt, welche unterschiedliche Betroffenheit es in verschiedenen Bevölkerungsgruppen gibt. Und natürlich hat die Regierung auch viele Fehler gemacht und hat es Dilettantismus gegeben, und es wurde auch deutlich, welche Organisationsschwäche unsere Gesellschaft tatsächlich hat, wenn es mal ein bisschen hart auf hart kommt. Man muss allerdings auch eines berücksichtigen dabei: Vieles an der Regierungspolitik leuchtet mir auch nicht ein, aber es ist so, dass Unzufriedenheit vielfach an die Regierung adressiert, die eigentlich ihre Ursache in der Pandemie selbst hat.
Wir lernen in dieser Pandemie oder wir erfahren es teilweise sehr leidvoll, dass wir Unwägbarkeiten ausgesetzt sind, die einfach mit dem biologischen Geschehen zu tun haben, und dafür sind nicht in erster Linie Regierungen verantwortlich. Regierungen versuchen, diese Unwägbarkeiten etwas berechenbarer zu machen. Wenn etwa in der öffentlichen Diskussion häufiger gesagt wird, wir wollen eine klare Perspektive haben, eine klare Öffnungsperspektive, möglichst mit Datum und Uhrzeit, so wird das niemand so formulieren können, wenn er wirklich ehrlich ist, weil alle diese Maßnahmen abhängig davon sind, wie das weltweite Pandemiegeschehen weitergeht, und das kann im Augenblick niemand sicher sagen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.