Sollen Menschen nach einer Covid-19-Impfung Freiheitsrechte zurückbekommen, die "nur" negativ Getesteten und Genesenen aber nicht? Unsere Kollegen Ludger Fittkau und Axel Flemming [AUDIO] kommentieren Pro & Contra.
"Zuerst alle milderen Mittel ausschöpfen"
08:29 Minuten
Gibt es eine moralische Pflicht zur Impfung, um die Pandemie zu stoppen? - Ja, sagt der Philosoph Adriano Mannino. Aus dieser moralischen Pflicht aber lasse sich keine Bürgerpflicht ableiten. Eine Impfpflicht des Staates könne und dürfe nur die Ultima Ratio sein.
Eckhard Roelcke: Die Pandemie hat viele grundsätzliche Fragen aufgeworfen, über die heftig gestritten wurde. Zunächst die Frage rund um den Lockdown: Wie viel? Wie flächendeckend? Wie föderal? Wie viele bundesweite Regelungen?
Als dann die ersten Impfstoffe bereitstanden, kamen die Fragen rund um die Priorisierung auf: Wer darf zuerst geimpft werden? Wer muss warten? Wer wird also früher geschützt und wer später?
Und nun: Wie umgehen mit den Menschen, die sich gegen den Rat der Wissenschaftler nicht impfen lassen wollen, die eine eigene Bewertung über Wirkung, Risiken und Nebenwirkungen der Impfungen vornehmen?
Adriano Mannino ist Philosoph und Risikoforscher an der Universität in München. Haben wir Bürger die moralische Pflicht, uns impfen zu lassen, um die Pandemie zu stoppen?
Adriano Mannino: Diese Frage würde ich bejahen. Ich würde allerdings zu bedenken geben, dass sich eine moralische Pflicht nicht primär an uns als Bürgerinnen und Bürger richtet, sondern an uns als Menschen. Man muss trennen zwischen uns als Menschen, die moralische Pflichten haben, und uns als Bürgerinnen und Bürger, die politische und rechtliche Pflichten haben.
Was die moralische und ethische Impfpflicht betrifft, kann man sich fragen: Was steht auf der Seite derjenigen auf dem Spiel, die von einer Impfpflicht am meisten profitieren würden? Hier habe ich insbesondere alte, gebrechliche, schwache Menschen im Blick; aber auch jüngere Menschen, die sich aus krankheitsbedingten Gründen vielleicht gar nicht impfen lassen können, obwohl sie das wollten. Oder Menschen, die geimpft sind, aber gleichzeitig immunsupprimiert sind, sodass unsicher ist, ob die Impfung überhaupt angeschlagen und gewirkt hat.
Für diese Menschen steht besonders viel auf dem Spiel, sie sind besonders verletzlich. Wir legen ihnen zumindest indirekt eine riesige Bürde auf, wenn wir uns nicht hinreichend durchimpfen hinreichend.
Auf der anderen Seite scheint für Leute, die sich vielleicht impfen lassen müssen, obwohl sie das eigentlich nicht präferieren, weniger auf dem Spiel zu stehen. Das scheint mir das Hauptargument dafür zu sein, dass eine moralische Impfpflicht besteht.
Roelcke: Was kann man daraus politisch ableiten?
Das Dilemma der Politik
Mannino: Es gibt viele Bereiche, in denen wir aus den bestehenden moralischen Pflichten nicht schließen würden und dürften, dass auch eine rechtliche Pflicht bestehen sollte. Die Frage ist hier, ob es politisch gerecht ist. Im politischen Bereich haben wir es oft mit fundamentalen und permanenten Meinungsverschiedenheiten zu tun.
Ich habe eben moralisch argumentiert. Nun gibt es über das Impfen aber eine Meinungsverschiedenheit. Es gibt Leute, die sagen: Nein, das ist ein Eingriff in meine körperliche Unversehrtheit, den will ich nicht, das ist mir eine zu große Bürde. Ich würde aber sagen: Aus empirischer Sicht ist das nicht der Fall.*
Man muss das aber in der Politik und im rechtlichen Kontext berücksichtigen. Deswegen würde ich hier - gerade aus ethischer Sicht -, sagen, dass das nur eine Ultima Ratio sein kann. Es müssen alle milderen Mittel ausgeschöpft sein, bevor man das Gewaltmonopol des Staates bemüht.
Roelcke: Entweder Nicht-Geimpften Freiheiten nehmen oder Geimpften Freiheiten zurückgeben, ist das das Dilemma, vor dem die Politik steht?
Mannino: Es ist oft von der Impfpflicht durch die Hintertür die Rede. Man kann eine "schwache Impfpflicht" auch dadurch einführen, dass man zum Beispiel die Betreiber von Restaurants oder Eventveranstalter zwingt oder dazu anhält, nur noch geimpfte Menschen an ihren Veranstaltungen teilnehmen zu lassen. Das wird immer noch schwächer, als wenn man vonseiten des Staates sagen würde: Es ist illegal, sich nicht impfen zu lassen. Das müsste das allerletzte Mittel sein, falls wir es dann mit einer großen vierten Delta-Welle zu tun haben oder weiteren Virusvarianten.
Über das Hausrecht und seine gesellschaftlichen Folgen
Roelcke: Mit einem Veranstalter haben wir heute hier gesprochen, nämlich mit Jens Michow. Er ist Präsident des Bundesverbands der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft und hat gesagt:
"Wir Veranstalter haben das Hausrecht bei unseren Veranstaltungen. Aufgrund dieses Hausrechts ist es uns zum Beispiel möglich zu sagen, Kinder unter 18 dürfen nicht in eine Veranstaltung kommen. Oder es ist möglich, zum Beispiel Handtaschen öffnen zu lassen, damit wir sehen können, ob dort irgendwelche Dinge drin sind, die nicht in eine Veranstaltung mitgebracht werden dürfen. Genauso wird es uns auch möglich sein zu sagen: Wir lassen nur Geimpfte in unsere Veranstaltungen. Dann muss es aber auch möglich sein, eine Veranstaltung ohne Abstandsregeln durchführen zu können."
Roelcke: Nicht der Staat, sondern ein Unternehmer will also mit der Möglichkeit des Hausrechts einen Unterschied zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften machen. Gießt man mit solchen Überlegungen Öl ins Feuer?
Mannino: Das würde ich nicht sagen. Es ist, wenn auch etwas interessengeleitet, ein interessanter Diskussionsbeitrag. Da ist sicher auch philosophisch etwas dran, wenn man sich auf so einen Standpunkt stellt, mit der Philosophie eines strikten Vorrangs von Freiheitsrechten, von Abwehrrechten, von Nicht-Einmischungsrechten.
Es ist interessant, das durchzudeklinieren. Das ähnelt dem Standpunkt, den viele Impfgegner einnehmen, die sagen: Ich habe hier ein Abwehrrecht, ein Freiheitsrecht, ein Recht auf Nicht-Einmischung, was meinen Körper betrifft.
Wenn man das geltend macht, dann muss man natürlich den Eventveranstaltern auch ein analoges Recht auf Nicht-Einmischung zubilligen. Dann müssen die auch das Recht haben zu bestimmen, wer zu den Veranstaltungen rein darf und wer nicht. Nun ist es aber problematisch, diese Freiheits- und Nicht-Einmischungsrechte absolut zu setzen.
Man kann sagen, ja, das sind einfach Private, die ihre Freiheitsrechte, ihre Grundrechte ausüben, indem sie außer die Geimpften niemanden reinlassen. Aber indirekt ist die gesellschaftliche Wirkung trotzdem analog einer Impfpflicht. Deswegen ist das nicht so einfach und durchaus vertrackter.
Der Journalist Ralph Bollmann [AUDIO] spricht sich für eine Abschaffung der kostenlosen Coronatests aus, sobald allen Bürgern ein Impfangebot gemacht werden kann. Es könne nicht sein, dass man sich auf Kosten des Staates laufend testen lasse, um beispielsweise auf Veranstaltungen gehen zu können.
Größerer Schutz der Hochrisikogruppen angemahnt
Roelcke: Habe ich Sie richtig verstanden? Insgesamt ist das, was Sie sagen, ein Plädoyer für eine stärkere Isolierung von Risikogruppen. Oder anders formuliert, für einen größeren Schutz für Risikogruppen.
Mannino: Isolierung gerade nicht! Das ist moralisch vielleicht der wichtigste Punkt: Es ist absolut furchteinflößend und entsetzlich für diese Menschen, jetzt zu wissen, dass vielleicht eine vierte große Delta-Welle droht, wenn sie geimpft, aber immunsupprimiert sind. Diese Hochrisikogruppe betrifft insgesamt Hunderttausende, Millionen Menschen.
Weil es ungerecht wäre, ihnen die Bürde aufzuerlegen, sich zu isolieren, bestehen starke moralische Gründe für alle anderen, sich impfen zu lassen. Je nachdem wie sich die Gefahrenlage im Herbst, Winter und danach weiterentwickelt, kann es in der Gesamtabwägung legitim werden, das politisch zu regulieren – auch mit einer Impfpflicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
*Wir haben an dieser Stelle eine sinnverzerrende Wiedergabe an die ursprüngliche Position des Gesprächspartners angepasst.