"Ein blinder Fleck im deutschen Geschichtsbewusstsein"
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Rund ein Drittel des Bundestags befürwortet ein Mahnmal für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges in Berlin. Auch die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann unterstützt den Vorstoß. Im Erinnern müssten Leerstellen aufgearbeitet werden.
Schon vor längerer Zeit ist der Kulturwissenschaftlerin und Friedenspreisträgerin Aleida Assmann aufgefallen, dass "für das, was die Deutschen den Polen im Zweiten Weltkrieg angetan haben, im deutschen Geschichtsbewusstsein so etwas wie ein blinder Fleck existiert". Sie erinnert sich, dass die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" in den 90er-Jahren nicht mit dem 1. September 1939, sondern mit dem 22. Juni 1941 begann.
"Das ist die Zäsur, mit der der Russlandfeldzug beginnt", erklärt Assmann. Als die Serie "Unsere Mütter, unsere Väter" im Fernsehen ausgestrahlt wurde, habe sich das Gleiche in den Massenmedien wiederholt: "Da fing das Verbrechen dieses Weltkrieges auch wieder mit dem Russlandfeldzug an."
Assmann sieht darin eine "systematische Aussparung, eine Leerstelle, die ein blinder Fleck geblieben ist". Mitte der 90er-Jahre hat es ihren Beobachtungen zufolge zwar geradzu eine Mahnmalhysterie gegeben. "Aber wie man sieht, ist die Erinnerung an diese Geschichte immer noch nicht in der Gegenwart angekommen."
Gefahr der Nationalisierung des Gedenkens
Wenn sich Deutschland in diesem Fall um das Gedenken bemüht, wäre es laut Assmann immer ein "transnationales Gedenken". Denn die Deutschen würden in eine Erinnerung einsteigen. "Die Opfer erinnern sich ja sehr gut. Jetzt geht es darum, dass diese Erinnerung geteilt wird." Assmann würde es "dialogisches Gedenken" nennen.
Dass Bundesaußenminister Heiko Maas in Polen an den Feierlichkeiten zum Gedenken an den 75. Jahrestag des Warschauer Aufstands teilgenommen hat, hält Assmann rückblickend für einen "ganz wichtigen Schritt". "Als Roman Herzog als Bundespräsident in Polen war", erklärt sie, "wusste er noch nicht einmal, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Warschauer Aufstand von 1944 und dem Jüdischen Ghettoaufstand von 1943".
Diskussionen und Begegnung ermöglichen
Ein Denkmal neben das andere zu setzen, ist ein Prozess, der endlos weitergehen könnte, erläutert Assmann. Mitte der 90er-Jahre habe regelrecht eine Mahnmalhysterie geherrscht. In der Denkmaldebatte gebe es aber auch den Vorschlag, ein Osteuropazentrum in Berlin als öffentlichen Ort zu etablieren, um Diskussionen und Begegnunen zu ermöglichen.
Die Zeugen, die Opfer des Krieges waren, sterben allmählich. Die Kulturwissenschaftlerin betont: "An diesem Punkt, werden die authentischen Gedenkorte wichtig. Denkmäler sind keine authentischen Gedenkorte. Sie entsprechen einem Bedürfnis, Erinnerungen zu pflegen und Erinnerungen zu praktizieren. Denn was man nicht wiederholt, verfällt dem Vergessen."
Die Diskussion um die Einmaligkeit und Exklusivität der Holocausterinnerung hält Aleida Assmann für nicht mehr aktuell. Zum einen, weil die Erinnerung institutionell vielfach verankert sei. Zum anderen sei es falsch gewesen, zu befürchten, dass die eine Erinnerung die andere auslöschen könnte.
Assmann schlussfolgert: "Es gibt hier keinen Verdrängungswettbewerb." Am 27. Januar beispielsweise würdigt der Deutsche Bundestag nicht mehr nur Holocaustopfer, "sondern erinnere inzwischen auch an die Leningrader Blockade, Opfer der Euthanasie oder lasse einen Sinto zu Wort kommen".
Auf die Frage nach dem Umgang mit geschichtsrevisionistischen Bestrebungen zeigt sich Assmann wenig besorgt. "Es ist zwar so, dass es einen Schwund des Geschichtswissens gibt. Aber es ist kein Schwund an Interesse zu beklagen."
(mfied)