Nicholas Stargardt, geboren 1962 in Melbourne, Australien, ist Professor für Neuere Europäische Geschichte an der Universität Oxford und Fellow am Magdalen College. Er hat zahlreiche Publikationen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert verfasst, insbesondere zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Auf Deutsch erschien von ihm 2006 "Kinder in Hitlers Krieg" (Pantheon) und 2015 "Der Deutsche Krieg" (S. Fischer)
Großbritanniens Sehnsucht nach Weltgeltung
Großbritannien minus EU gleich Weltmacht? Die Rechnung gehe nicht auf, meint der Historiker Nicholas Stargardt. Denn in ihrer utopischen Nostalgie hätten die Brexit-Befürworter vergessen, wie sehr erst die Europäische Gemeinschaft die einzelnen Nationalstaaten stabilisiert habe.
Diesmal ist es selbstverschuldet. Vor zwei Jahren, als die Kampagne zur Unabhängigkeit Schottlands in vollem Gange war, warteten die entrechteten Wähler aus Wales, Nordirland und England – größtenteils ruhig – auf die Information, ob sie nach dem Referendum der Schotten noch in einem "Vereinigten Königreich" leben würden.
Das Referendum über einen Austritt Großbritanniens aus der EU dagegen war sehr wohl zu umgehen. Es gab dafür keinerlei externen Auslöser. Eine der wahrscheinlichsten Erklärungen für die große Anzahl unschlüssiger Wähler ist wohl Verwirrung: Sie wissen nicht, warum sie zur Wahl gebeten werden. Was genau hat sich in der EU verändert, um ein solches Referendum zu rechtfertigen? Nichts. Die lautesten Stimmen auf beiden Seiten der Debatte sind erwartungsgemäß die der Konservativen.
Obwohl die Briten sehr stolz auf ihre demokratische Tradition sind, sind Volksabstimmungen doch eine relativ neue Gepflogenheit: Das erste landesweite Referendum fand 1975 statt, um den Beitritt Großbritanniens zur EWG -wie sie damals hieß- zu ratifizieren. Genau wie damals bestehen all jene, die für den "Brexit" plädieren, darauf, dass Großbritannien, als Seemacht und Handelsnation, es in der Welt auch "im Alleingang" schaffen könne. In anderer Hinsicht hat sich dagegen alles verändert. Jeremy Corbyn und John McDonnell, die jetzigen Führer der Labour-Party setzen sich diesmal dafür ein, dass Großbritannien in Europa verbleiben soll, weil die EU sich noch besser für die Rechte der Arbeiter einsetzt als die Brexit-Alternative.
Und hierin besteht einer der großen Unterschiede zu vor 40 Jahren: Es gibt seitens der Linken in Europa keine grundlegende Kritik am Status quo.
Wirtschaftskrise in Europa - ohne Kampfansage der Linken
Dieses Fehlen einer radikalen Linken ist seit der Weltwirtschaftskrise von 2008 nicht mehr zu übersehen. Zum ersten Mal seit den Tagen vor der Revolution von 1848 erfährt Europa eine einschneidende Wirtschaftskrise, ohne dass diese eine allgemeine politische Kampfansage seitens der Linken ausgelöst hätte. Allerorten haben sich der Groll und die soziale Unzufriedenheit nach sechs mageren Jahren angehäuft und schleichend einer extremen Rechten Vorschub geleistet.
Diese Rolle wird durch die UK Independence Party von Nigel Farage bekleidet, der für einen klassischen Protektionismus plädiert.
Doch die lautesten Stimmen des Brexit-Lagers haben einen ganz anderen Themenkatalog: Sie sind stramme Neoliberale, die das Vermächtnis Margaret Thatchers zu vollenden meinen, indem sie dem "freien Handel" alle Barrieren aus dem Weg räumen.
Diese tiefe Spaltung innerhalb des Brexit-Lagers führt natürlich dazu, dass die zwei Flügel ungern thematisieren, was sie mit ihrer Souveränität anfangen würden, sobald sie sie bekämen. Aber gleichzeitig träumen sie alle davon, dass Großbritannien automatisch seinen Status als Großmacht wieder einnähme, den es einst in der Welt innehatte.
Mit einer Sache haben die Brexit-Verfechter allerdings Recht. Bei diesem Referendum geht es eher um die nationale Souveränität als um die Wirtschaft. Doch in ihrer utopischen Nostalgie haben sie vergessen, wie sehr die Europäische Gemeinschaft dazu beigetragen hat, dass sich im westlichen Nachkriegseuropa die einzelnen Nationalstaaten stabilisieren konnten.
Und Großbritannien? Ist es wirklich so immun gegen dieses allgemeine Muster? Hier täten wir gut daran, uns an das schottische Referendum von 2014 zu erinnern. Wenn die Brexit-Befürworter sich durchsetzen, müssen sie mit einem zweiten schottischen Referendum rechnen, dass auch eine tiefe politische Krise in Nordirland auslösen wird. Wo wird ihr utopisches Streben nach ungeteilter Souveränität endgültig Erfolg finden? Vielleicht in einem kleinen Einheitsstaat – ja, in einem Königreich England.