Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift „Wespennest“. 2015 erschien ihr gemeinsam mit Sandra Lehmann verfasster Interviewband „Bestandsaufnahme Kopfarbeit“ (Klever Verlag) und zuletzt die autofiktionale Erzählung „Man kann Müttern nicht trauen“ bei dtv.
Österreichs „Neutralität“
Der NATO beitreten oder weiter neutral bleiben? Österreich ist sich unneinig. Die Philosophin Andrea Roedig ist überzeugt: Neutrale Instanzen erleichtern das Beilegen von Konflikten. © Getty Images / artpartner-images
Jeder Konflikt braucht ein Außen
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Laut Verfassung ist Österreich zur „Neutralität“ verpflichtet – ein offener Brief stellt diesen Grundsatz nun infrage. Aber was ist Neutralität eigentlich? Sind wir überhaupt dazu fähig? Und wann ist sie geboten?
Positiv, negativ – neutral. Heilsam, schädlich – egal. Plus, minus – oder einfach nur Null: Das Neutrale ist das Dritte in Spannungsverhältnissen. Es ist das, was sich heraushält aus dem Widerstreit der Kräfte. Der Philosoph Thomas Hobbes unterscheidet in seinem „Leviathan“ zwischen Dingen, die wir begehren, solchen die wir hassen, und solchen, die uns nicht affizieren, gegen die wir eine gewisse „Festigkeit des Herzens“ entwickeln.
Zurücktreten und sich des Urteils enthalten
Recht besehen spielt dieses Prinzip der Neutralität eine wesentliche Rolle in allen möglichen philosophischen Kontexten. Wir finden es in Epikurs ethischer Anweisung der „Ataraxie“, also der Seelenruhe, in Kants ästhetischer Formel vom „interesselosen Wohlgefallen“ und in Edmund Husserls Methode der „Epoché“ – mit der er bewusst Urteile über die Realität der Welt ausklammert.
Zurücktreten und Sich-Enthalten vom Urteil ist bekanntlich auch die Grundlage buddhistischer Lehren, sowie der Wissenschaft generell, die für sich Neutralität, Sachlichkeit und Unvoreingenommenheit beansprucht.
Die Neutralität gewährleistet Freiheit. Sie erscheint aber auch als elitärer Snobismus und als wachsweiche Beliebigkeit. Nichts ist langweiliger als Ausgewogenheit – wer möchte schon bei einem Fußballspiel zu keiner Seite halten – und zudem steckt in der Neutralität ein grundsätzlicher Affront: Sie ist unsozial.
Die Gesellschaft, das Leben, die Politik sind per se Interaktion und Vermischung und Konflikt. Hier sich aseptisch herauszuhalten ist beleidigend und es ist – sofern wir alle soziale Wesen sind – im Grunde gar nicht möglich.
Ist Neutralität verantwortungslos?
Zwei Vorwürfe treffen daher die Neutralität immer wieder. Erstens: Der hehre Anspruch der Überparteilichkeit sei Augenwischerei, denn jede auch noch so rein wirkende Objektivität und Sachlichkeit sei im Grunde von Interessen geleitet.
Der zweite Vorwurf an die Neutralität lautet: Sie sei unsolidarisch und drücke sich vor Verantwortung. Neutralität macht sich die Hände nicht schmutzig, spielt den lachenden Dritten, profitiert – wie die Schweiz und Österreich derzeit vielleicht – davon, dass andere zahlen und die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen.
Interessant, wie viel Sprengstoff gerade in der neutralen Null steckt. Aber genau deshalb muss man ein – begrenztes – Plädoyer für sie halten. Es gibt historische Situationen, in denen tatsächlich Neutralität nicht möglich ist.
Es sind dies Situationen, in denen sich ein Konflikt so zuspitzt, dass jede Handlung und Haltung zum Politikum wird. Unter solchen Umständen ist es moralisch unmöglich, sich herauszuhalten. Hier wird dann selbst Unentschiedenheit zur Entscheidung. Wir haben das in den letzten Wochen hautnah erlebt.
Gerade jetzt brauchen wir neutrale Freiräume
Dennoch muss es – gerade in der Atmosphäre genereller politischer und moralischer Mobilmachung – einen Freiraum geben. Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer hat dazu eine deutliche Position: Wo, wenn nicht auf neutralem Terrain, sollen Friedensverhandlungen stattfinden?
Er sprach auch von „aktiver Neutralität“. Das ist kein schlechter Begriff. Jedes Spiel und jeder Krieg braucht Schiedsrichter, und die Regeln des Spiels – so wie die des Krieges – müssen von anderen gemacht werden als von den direkt Teilnehmenden selbst. Sie entstehen außerhalb der Konfliktzone.
Wir brauchen den Freiraum der Neutralität. Manchmal ist dieser Raum auch ein Zeitraum – ein Moratorium – das einen Übergang gewährt von einem Stadium in ein anderes. Damit die Gegensätze sich bewegen und irgendwann – ganz im Sinne Hegels – aufgehoben werden können.