Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift "Wespennest". 2015 erschien ihr gemeinsam mit Sandra Lehmann verfasster Interviewband "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" und zuletzt ihr Essayband "Schluss mit dem Sex", beide im Klever Verlag.
Zweierlei Maß in Wirtschaft und Gesellschaft
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Die aktuelle Absage an Privilegien für Geimpfte zeigt: Im öffentlichen Raum setzen wir hohe moralische Standards an. Umso augenfälliger wird, dass diese in der wirtschaftlichen Sphäre kaum gelten, meint die Philosophin und Publizistin Andrea Roedig.
Keine Sonderrechte für Geimpfte oder bereits immune Menschen – als Gesundheitsminister Jens Spahn schon Ende des letzten Jahres diese Auffassung verkündete, war der Sinn intuitiv sofort klar. Es ist eine Frage der guten Sitten oder des Anstands: Gegessen wird erst, wenn alle am Tisch sitzen.
Solidarität mit Schwächeren oder bloß Symbolpolitik?
Die ethischen Standards einer Gesellschaft zeigen sich an dem Maß, wie sie die Schwachen schützt, die daher auch zuerst geimpft werden. Und daran, wie viel Rücksicht die Gesellschaft auf alle nimmt, weshalb die noch Ungeimpften nicht benachteiligt sein sollen.
Auf den zweiten Blick allerdings stellt sich dann doch ein Zweifel ein: Was haben die Nicht-Geimpften davon, dass die Geimpften auch zu Hause hocken müssen? Ist das nicht eine unsinnige Symbolpolitik?
Der Deutsche Ethikrat, der ebenfalls gegen Sonderrechte plädiert, hat es sich mit seiner Empfehlung nicht leicht gemacht. Schon in einer Stellungnahme vom Herbst letzten Jahres war er gespalten: Während die eine Hälfte des Gremiums für eine rasche Wiedergewährung der Freiheitsrechte für Genesene und Geimpfte plädierte, war die andere Hälfte besorgt, es entstehe eine Zwei-Klassengesellschaft zwischen Immunen und Nicht-Immunen.
Dystopie einer Zwei-Klassen-Gesellschaft
Man einigte sich darauf, dass aus Gründen der öffentlichen Moral zumindest alle weiter Masken tragen sollten, und dass im Moment, so lange wir nicht wissen, ob Immunität auch vor Weitergabe des Virus schützt, keine Sonderrechte für Immune gelten sollen. Fast klingt das wie ein erleichterter Aufschub für die Entscheidung eines Konflikts zwischen Gleichheit und Freiheit, der offenbar nicht eindeutig zu lösen ist.
Tatsächlich wäre die Vorstellung einer geteilten Gesellschaft furchtbar, wenn etwa die Immunen einen Pass mit sich tragen könnten, eine Art "Covid-Card", die ihnen Zugang zum öffentlichen Leben gewährt. Aber ist das so fern aller Realität?
Schizophrenie der Sphären
Was die freie Wirtschaft angeht, erleben wir ja in den letzten Jahrzehnten mit zunehmender Selbstverständlichkeit in einer Welt der Priority Lines, der Business Lounges, der Privaten Krankenkassenleistungen – der exklusiven Zugänge, und akzeptieren das auch. Fraglos. Denn eigenartigerweise ist unser Gerechtigkeitssinn, was ökonomische Ungleichheit angeht, auf robuste Weise unsensibel.
Die Selbstverständlichkeit, mit der die Politik und die breite Öffentlichkeit sich gegen Sonderrechte für Geimpfte ausspricht, ist begrüßenswert. Der fast schizophrene Unterschied zwischen den Sphären aber irritiert: Man hat das Gefühl, dass die ethischen und rechtlichen Standards des öffentlichen Sektors umso anspruchsvoller und egalitärer daher kommen, je blutiger im ökonomischen Unterbau die Verteilungskämpfe wüten.
Machen wir uns nichts vor: Ungleichheit ist der Motor des Systems, und es gibt sehr wenig politischen Willen, daran etwas zu ändern.
Gute Sitten für alle Gesellschaftsbereiche
Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Danielle Allen hat ein Modell der Gerechtigkeit vorgeschlagen, in dem politische Gleichheit, ökonomische Fairness und soziale Gleichheit sich gegenseitig bedingen. Es geht darum, die guten Sitten zu trainieren und auf alle Sphären auszudehnen.
Denn gesellschaftliche Freiheit ist ohne Gleichheit, und soziale Gerechtigkeit ist ohne ökonomische Umverteilung nicht zu haben.