Debatte um Waffenlieferungen

Moralische Verurteilungen führen ins Abseits

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Gegnerische Tischfußballmannschaften mit roten und weißen Figuren stehen einander gegenüber.
Erstarrt in gegenseitigen Zuschreibungen: Der Philosoph Andreas Urs Sommer beobachtet, dass die sich Debattenkultur in der Ukrainefrage moralisch zuspitzt und damit selbst blockiert. © Getty Images / Paul Taylor
Andreas Urs Sommer im Gespräch mit Dieter Kassel · 04.05.2022
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Moralische Verurteilungen führen in der Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine nicht weiter, meint der Philosoph Andreas Urs Sommer. Es gelte, über militärisches Kalkül hinauszudenken und demokratische Qualitäten stark zu machen.
Über die Frage deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine ist eine Diskussion entbrannt, in der persönliche Angriffe gegenüber Argumenten oft die Oberhand gewinnen. Er habe den Eindruck, "dass die Debatten auf ein scharfes Entweder-Oder hinauslaufen und die Bereitschaft, eine entgegensetzte und womöglich einen selbst schmerzende Meinung zu akzeptieren, sich dem Nullpunkt nähert", sagt der Philosoph und Publizist Andreas Urs Sommer von der Universität Freiburg.

Der Wunsch, auf der richtigen Seite zu stehen

Anstelle einer sachlichen Diskussion laufe die Auseinandersetzung häufig auf eine "Diskreditierung der jeweils entgegengesetzten Position und der Person, die diese Position vertritt" hinaus, findet Sommer, etwa mit Blick auf eine Stellungnahme des Sozialphilosophen Jürgen Habermas in der "Süddeutschen Zeitung" und auf den offenen Brief von 28 prominenten Persönlichkeiten in der Zeitschrift "Emma", die vor der Gefahr eines Dritten Weltkriegs warnen.
Sommer sieht das Problem in einer moralischen Verengung der Diskussion, die sich in ähnlicher Weise auch während der Coronapandemie gezeigt habe. Gerade in Deutschland gebe es offenbar ein besonders stark ausgeprägtes Bedürfnis, "moralisch auf der richtigen Seite zu stehen". Womöglich sei das historisch bedingt, sagt Sommer, doch letzten Endes führe es zu einem Schwarz-Weiß-Denken, in dem Graubereiche keinen Platz mehr hätten.

Wenn Moral die einzige Währung ist, mit der eine Debatte geführt wird, ist es häufig so, dass sie sich nicht mehr durch Offenheit auszeichnet, sondern den Tunnelblick bekommt.

Andreas Urs Sommer, Kulturphilosoph

In den gegenwärtigen Krisen zeige sich, dass unsere Gesellschaft schlecht darauf vorbereitet sei, "mit fundamentalen Ohnmachtserfahrungen umzugehen", so Sommer. Das Gefühl, dramatischen Ereignissen hilflos gegenüberzustehen, führe zu dem psychologischen Trugschluss, wir könnten etwas Halt und Sicherheit zurückgewinnen, wenn wir wüssten, dass wir wenigstens moralisch Recht haben. Dabei sei es letztlich ein Gebot der Klugheit, extreme Positionen zu vermeiden.

Wege aus der Ohnmachtsfalle

Deshalb komme es darauf an zu lernen, mit Ungewissheiten zu leben. "Um aus der Ohnmachtsfalle herauszukommen, müssten wir ganz andere Strategien wählen", sagt Sommer.

Über die taktische Frage, wie die Ukraine sich gegen die russische Aggression behaupten kann, hinaus, sollten wir uns ganz grundsätzliche Fragen stellen: Etwa wie wir unser gesellschaftliches System so attraktiv machen, dass es in der Konkurrenz der politischen Systeme bestehen kann.

Andreas Urs Sommer, Kulturphilosoph

Mehr gesellschaftliche Teilhabe, mehr Inklusion von allen Beteiligten des Gemeinwesens – eine Entwicklung in diese Richtung würde die westlichen Demokratien aus Sommers Sicht stärken und damit auch die Chancen für einen dauerhaften Frieden erhöhen, über die militärischen Überlegungen hinaus, die derzeit auch erforderlich seien.

Die Stärken westlicher Demokratien

"Mir scheint, dass die Frage des Konfliktes letztlich nicht auf dem Schlachtfeld entschieden wird, sondern auf der Ebene der Attraktivität politischer Systeme", sagt der Philosoph. "Wenn es uns gelingt, unsere liberale westliche Demokratie so zu gestalten, dass Menschen das wirklich für die einzig richtige politische Form halten, dann, glaube ich, sind langfristig die Aussichten des Westens außerordentlich positiv."
(fka)

Die Demokratieforscherin Paulina Fröhlich vom Berliner Thinktank „Progressives Zentrum“ kann der kontroversen Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine durchaus positive Aspekte abgewinnen : Gerade die Form eines offenen Briefes setze bei allen Beteiligten voraus, dass sie in der Lage seien, Allianzen zu bilden, indem sie gemeinsame Positionen formulieren, Mehrheiten organisieren und bei bestimmten Details über den eigenen Schatten springen – allesamt Fähigkeiten, die zu den wichtigsten in einer Demokratie gehören, so Fröhlich.

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