Musik braucht keine Herkunftsfragen
09:15 Minuten
Unter dem Hashtag #vonhier wurde in den letzten Monaten diskutiert, ob das ständige Fragen, woher jemand komme, diskriminierend ist. Ja, das ist es, findet Popkritiker Jens Balzer. Es sei denn, der Künstler mache die Herkunft zum Thema.
Martin Böttcher: "Und, wo kommst du her?" Eine Frage, die Menschen mit dunkler Hautfarbe oder schwarzem Haar oft in Deutschland gestellt bekommen. Und wenn sie dann sagen "Berlin", "Ruhrgebiet" oder "Mannheim", dann kommen weitere Nachfragen. "Nein, wo du 'wirklich' herkommst, meine ich." Bei Twitter wird unter dem Hashtag #vonhier diskutiert, ob die Frage unschuldig oder ärgerlich oder sogar rassistisch ist.
Jens Balzer, Journalist und Dozent für Popkritik an der Berliner Universität der Künste hat sich den Fragen gestellt. Lässt sich die Diskussion um Herkunft von vermeintlichen Migranten auf die Musik übertragen? Müssen wir für einen sensibleren Umgang mit Herkunftsbeschreibungen plädieren? Lässt sich die Debatte übertragen?
Jens Balzer: Ich glaub, man muss da einen Unterschied festhalten. So, wie die Debatte "Woher kommst Du wirklich?" in den letzten Monaten geführt wurde, ging es dabei vor allem darum, dass Menschen mit Migrationshintergrund sagen: "Wir sind es leid, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit nach unserer 'wirklichen' Herkunft gefragt zu werden. Und zwar auch in dem Sinne, dass damit impliziert wird, dass wir nicht dazu gehören, zur Mehrheitsgesellschaft, dass wir fremd sind, dass wir, wenn wir ins Gespräch kommen, erst einmal auf diese Fremdheit reduziert werden."
Das zu thematisieren, ist absolut berechtigt. Es geht um Diskriminierungserfahrungen, auch wenn es sich um "gut meinende" Diskriminierung handelt, und wie man sich dazu positioniert.
"Ich finde die Debatte hilfreich und wichtig"
Böttcher: Aber wenn wir über Pop sprechen, dann versuchen wir ja auch immer, Geschichten zu erzählen. Manchmal macht man das am Alter fest, gern auch an einer runden Zahl wie 60 oder 70 Jahre. Oder eben an der Herkunft. Sind im Pop nicht die "Wurzeln" ein wichtiger Ansatzpunkt, um Musik zu verstehen oder zu interpretieren?
Balzer: Ja, das ist eben der Unterschied. In dem Fall reden wir, worum es in der Musik geht oder in der Kunst, was das Thema ist und was die politischen Botschaften. Ich finde aber trotzdem, auch da gilt es, was in der Diskussion kritisiert wurde, übertragen: Wenn die erste Beobachtung, die erste Beschreibung eines Künstlers darauf hinausläuft, wie er oder sie aussieht, wo er oder sie herkommen könnte, auch in einer Rezension, in einem kritischen Text, in einem Porträt, ohne dass es Bezug nimmt auf die Kunst, die Musik, dann ist das natürlich diskriminierend.
Und da braucht man selbstverständlich eine stärkere Sensibilität für diese Art des Blicks. Insofern finde ich die Debatte in dieser Hinsicht sehr hilfreich und wichtig.
Aber wenn eben eine Künstlerin oder ein Künstler die eigene Herkunft selber zum Gegenstand der Musik machen, oder eine kulturelle Tradition, auf die er oder sie sich bezieht, dann muss man natürlich darüber reden.
Böttcher: Lass uns das mal konkret machen. Gibt es dafür Beispiele?
Balzer: Gerade am letzten Freitag war ich in Berlin in der Berghain-Kantine beim Release-Konzert von Ebow, das ist eine deutsch-türkische Rapperin aus München, die gerade unter großem Aufsehen und kritischer Öffentlichkeit ihr neues Album "K4L" herausgebracht hat, eine Abkürzung für "Kanak for Life". Und sie setzt sich in ihren Tracks sehr wohl mit ihrer deutsch-türkischen Herkunft auseinander und, das ist dann eben damit verbunden, mit den eigenen Diskriminierungserfahrungen durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Wenn man es mit so einer Künstlerin zu tun hat, dann muss Herkunft natürlich ein Thema sein. Alles andere ginge am Gegenstand vorbei. Also insgesamt, glaube ich, es gilt hier, was auch für jede gute Kritik und für jede gute Popkritik gelten sollte: Zuerst geht es darum, was sind die Fragen, die in der Kunst, über die wir reden, gestellt werden. Was sind die Themen? Und wie spricht man so über Kunst, dass die Künstlerin oder der Künstler sich in diesem Gespräch wiederfindet? Und nicht das Gefühl hat, irgendetwas übergestülpt zu bekommen.
Kulturelle Herkunft ist fließend
Böttcher: Das ist ja nur ein Beispiel. Was gibt es noch für verschiedene "Strategien", mit der Herkunft, den Wurzeln – oder wie man das nennen will - umzugehen?
Balzer: Es gibt sehr unterschiedliche Umgangsweisen. Man kann das unterscheiden nach Künstlerinnen und Künstlern, aber auch im größeren Maßstab, was etwa Genres betrifft. Im Hip-Hop sind Herkunft und kulturelle Tradition immer ein Thema gewesen, da kann man bis zur Frühphase der Geschichte gehen.
Denken wir an Crews wie De La Soul oder A Tribe Called Quest. Die haben ihre Tracks ja nicht umsonst mit ganz vielen Samples aus der afroamerikanischen Kulturtradition durchsetzt: Jazz, R'n'B, Soul et cetera, um damit auf ihre Herkunft zu verweisen, auf ihre kulturelle Herkunft eben. Genauso wie etwa Ebow mit Zitaten aus der türkischen Musik arbeitet.
Aber das ist eben kulturelle Herkunft. Da muss man auch noch mal diesen Unterschied markieren. Darüber kann und muss man reden, ohne zu fragen, woher die Leute "wirklich" kommen in dem Sinne, dass sie nicht "zu uns" dazugehören. Kann dann vielleicht im Gegenteil feststellen, das es so was wie kulturelle Identität in den Grenzen eines nationalstaatlichen Territoriums ohnehin gar nicht mehr gibt.
Dass das, was man "deutschen Pop der Gegenwart" nennen könnte, ohnehin in eine Vielzahl von Traditionen aus unterschiedlichen Herkünften zerfällt. Gerade im Hip-Hop, der ja wesentlich migrantisch geprägt ist in den letzten Jahren, ist das ganz deutlich.
Kulturelle Hybridität von Künstlern
Böttcher: Ist ja in der Popmusik, wo es oft um Vereinfachung geht, nicht immer einfach, das so hinzubekommen. In der Clubmusik gab es ja mal den Ansatz: Das ist genderlose, herkunftslose Musik, es wurde verschleiert, wer dahinter steht. Hat sich aber bisher nicht flächendeckend durchgesetzt – und kann es vielleicht auch nicht, oder?
Balzer: Na ja, vielleicht doch. Ich glaube schon, dass die elektronische Musik im allgemeinen und die Clubmusik im Besonderen in den letzten Jahren schon dazu geneigt hat, so etwas wie Herkunftsbeschwörung, kulturelle und stilistische Traditionen so eher aufzulösen und einem klanglichen Kosmopolitismus zuzustreben.
Der Kritiker Simon Reynolds hat das mal "Xenomania" bezeichnet, dass also in dem Moment, wo auch das Internet als globales Archiv offensteht, auch so ein Impuls ausgegangen ist, möglichst entlegene und möglichst noch niemals bearbeitete Klangquellen mit der Tanzmusik zu verbinden.
Man kann das zum Beispiel in Berlin in der "Säule" beobachten, dem experimentellen Dancefloor im Berghain, wo die aktuelle DJ-Avantgarde auflegt, da hört man dann schon einmal einen chinesischen DJ, der brasilianische Baile-Funk-Rhythmen mit westafrikanischen Hi-Life-Sounds verbindet.
Es gibt Künstlerinnen wie Fatima Al Qadiri, eine Kuwaiti, die abwechselnd in New York und in Berlin lebt, die ein ganzes Album - "Asiatisch" heißt das - mit "falschen", "gefakten", chinesischen und japanischen Sounds aufgenommen, weil sie damit ein Klangbild ihrer kulturellen Herkunft geben wollte, weil sie nämlich als Teenagerin in Kuwait - hat sie mir mal im Interview erzählt - wesentlich von japanischen Zeichentrickserien geprägt war, die in Kuwait offenbar rauf und runter liefen.
Das sind so Beispiele einer kulturellen Hybridität von Künstlern und Künstlerinnen, die sich eigentlich selbstverständlich rund um den Globus bewegen und gar kein Verständnis mehr von territorial definierter Kulturtradition haben.
Kein Soundtrack für Identitäre
Böttcher: Vor kurzem war Yola bei uns. Eine "Person of Color", die Americana macht. Das haben wir thematisiert. Und trotzdem ist das komisch, so etwas im Jahr 2019 noch so zu betonen. Denn natürlich können PoCs auch Country machen. Können Musikstile oder sollten Musikstile heute noch eine Herkunft haben?
Balzer: Das ist natürlich in unserer globalisierten Epoche generell die Frage. Ich kann ja den Negativtest machen, den Lackmustest: Also, man sieht zum Bespiel, wie schwer es weiße Rassisten haben, sagen wir mal: von der Alt-Right in den USA bis zu den Identitären hierzulande, so für ihre politische Bewegung einen angemessenen Soundtrack zu finden. Weil, die wollen nur Musik hören, die rein weiß ist, also ohne afroamerikanische oder sonst welche nicht-weißen Einflüsse.
Das gibt es aber eigentlich gar nicht mehr. Oder hat es im Pop vielleicht nie gegeben. Es sei denn, man beschränkt sich auf stumpfen Hardcore-Nazi-Schraddel-Punk, mit dem man heute aber kein großes Publikum mehr gewinnen kann.
Was es auf der anderen Seite aber gibt, also auf der Seite des hybriden, kosmopolitischen Pop, das ist eine wachsende Zahl an Stimmen, die bestimmte Formen der Vermischung und Entwurzelung als Ausbeutung von Minderheitenkulturen beklagen. Also Stichwort "cultural appropriation" [kulturelle Aneignung, Anm. d. Red].
Identitätspolitik im Pop
Böttcher: Gibt es auch dafür ein konkretes Beispiel?
Balzer: Auch gerade ein aktueller Fall: eine kanadische, wie ich finde sehr tolle Elektronikproduzentin namens Ramzi, die so einen superhybriden, komplett deterritorialisierten Klangstil pflegt und das "The Fourth World"nennt, also die Vierte Welt jenseits unserer geografischen Zuschreibungen.
Die wollte im Frühjahr ein Album herausbringen und hatte ein paar Tracks schon auf Soundcloud gestellt, und in einem dieser Tracks hatte sie - neben afrikanischen, indonesischen und kanadischen Samples - auch ein paar Sekunden aus dem indischen Nationallied verarbeitet, woraufhin ein britischer Produzent mit indischem Migrationshintergrund in den sozialen Netzwerken einen Shitstorm gegen sie entfachte, wie sie es wagen könne, ein nationales Heiligtum als Wegwerf-Sample für ihre Tanzmusik zu benutzen.
Woraufhin sie und ihr Label zerknirscht das gesamte Album zurückgezogen haben, um das jetzt nochmal politisch korrekt zu überarbeiten.
Das heißt, da kann man jetzt beobachten, wie in den kosmopolitischen Eklektizismus der elektronischen Musik auch jene Kämpfe Einzug halten, die man gemeinhin mit dem Stichwort "Identitätspolitik" belegt. Und ich glaube, das ist eine Debatte, die uns in der näheren Zukunft noch stark beschäftigen wird.
Böttcher: "Wo kommst Du eigentlich her?" Lässt sich die Diskussion um Herkunft auch auf die Musik übertragen? Darüber sprach ich mit meinem Kollegen Jens Balzer. Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(cdr)