"Das schönste Jahr der DDR"
So beschrieb kürzlich Pfarrer Rainer Eppelmann rückblickend die Zeit vor 25 Jahren auf einer Podiumsdiskussion im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Mit ihm erinnerten sich an die ersten und letzten freien Wahlen in der DDR: Richard Schröder und Jens Reiche.
Als geborener Wessi kann man's naturgemäß kaum nachempfinden. Wie das war für die DDR-Bürger, als sie am 18. März 1990 erstmals eine demokratische Wahl erlebten. Der zum Feierlichen tendierende Pfarrer Rainer Eppelmann, Gründungsmitglied des Demokratisches Aufbruchs, der im Sommer 1990 mit der DDR-CDU fusionierte, erklärte den großen Tag im Deutschen Historischen Museum so:
"Jetzt das erste Mal eine Wahl, von der ich annehmen konnte: frei, demokratisch, ohne Betrug. Und du bist selber mit dabei. Das war wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Goldene Hochzeit – alles auf einem Tag."
Goldene Hochzeit? Eher wurde ja wohl, um im Bild zu bleiben, die Ehe zwischen DDR-Bürgern und Demokratie geschlossen. Und alle wollten dabei sein, wie die Wahlbeteiligung beweist, die heute so irre klingt wie einst die SED-Propaganda.
Eppelmann: "Wenn man sich das überlegt: Fast 95%! Es ist also fast jeder gegangen! Bemerkenswert! Macht aber auch deutlich, dass nicht bloß für die, die sich heute erinnern, sondern dass es für 16 Millionen Deutsche möglicherweise der wichtigste Tag ihres bisherigen Lebens war."
Für die zu Wählenden allerdings nicht unbedingt der glücklichste. Der Demokratische Aufbruch erreichte nur 0,9 Prozent, vier Tage zuvor war der Vorsitzende Wolfgang Schnur als Inoffizieller Stasi-Mitarbeiter enttarnt worden.
Auch die favorisierte SPD mit Ibrahim Böhme an der Spitze kam mit knapp 22 Prozent unter die Räder. Was Richard Schröder, der nach der Wahl Fraktionsvorsitzender wurde, im Rückblick keineswegs grämt.
"Eigentlich sollte der Verlierer traurig sein und der Sieger sich freuen. Es war aber diesmal insofern umgekehrt, als wir von der SPD froh waren, dass Ibrahim Böhme nicht Ministerpräsident wird. Das hätten wir sowieso dann noch irgendwie verhindern müssen. Nicht wegen der Stasi-Vorwürfe, die kamen, glaube ich, eine Woche später, sondern weil wir wussten, dass er es nicht kann."
Es war der Molekularbiologe Jens Reich, damals an der Spitze von Bündnis 90, dem das Melancholische an der Erinnerungs-Runde im Deutschen Historischen Museum auffiel:
"Es sitzen hier ja lauter Wahlverlierer, stelle ich fest!"
Und plötzlich Ministerpräsident
Denn auch Bündnis 90 erlitt eine Klatsche, 2,9 Prozent. Den Wahlsieger, Lothar de Mazière von der CDU, der nach dem Sieg des Bündnisses "Allianz für Deutschland" plötzlich designierter Ministerpräsident der DDR war, beneidete indes niemand, weder damals noch heute.
Reich: "Am Wahlabend bin ich tatsächlich auch in diesen Palast der Republik geeilt, weil ich hin gerufen wurde. Ich war guter Stimmung, und Herr de Mazière sah aus, als hätte er einen Schlag auf den Kopp gekriegt. "
Eppelmann: "Er hat ja Tage dafür gebraucht, bis er sagen konnte: Ich wag's. Das spricht nicht gegen ihn, sondern für ihn. Weil er also wusste oder ahnte, was da auf ihn zukommt. Und man darf es vielleicht mal sagen: Ein halbes Jahr später wog er nur noch die Hälfte."
Wie sehr die West-Parteien den Wahlkampf und damit auch den Wahlausgang gesteuert hatten: das scheint in der Erinnerung keine Rolle mehr zu spielen, jedenfalls verloren die Diskutanten darüber kein Wort. Wohl aber über den Alltag als Abgeordnete, als sogenannte "Laienspielgruppe".
Schröder: "Also, Laie zu sein, kann natürlich nach einer Diktatur auch heißen, frei zu sein von den Verkrustungen und, wie nennt man das hier… Scheuklappen und so etwas. Unbefangen! Wir waren unbefangen! Und die Profis waren befangen. Und da war eben unbefangen besser als befangen."
Nun, einige Profis saßen sehr wohl in der Volkskammer und zwar als Abgeordnete der SED-Nachfolgepartei PDS. Große Keilereien sind aber niemandem erinnerlich.
Eppelmann: "Die saßen da. Ich hätte sie nicht gewählt. Aber sie waren gewählt worden. Also gehörten sie dazu. Das geht mir ja auch heute bei manchen Abgeordneten so, dass ich zur Kenntnis nehmen muss, die sind tatsächlich gewählt worden."
Am schwersten unter dem Ansturm der Medien inklusive Live-Übertragung der Volkskammer-Sitzungen litt Jens Reich, der zwar in den Neunzigern für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, sich aber nie als Politik-Profi gesehen hat.
"Man kommt morgens um neune ins Haus rein, dann stehen da die Journalisten. Und am Vorabend ist irgendeine Sau durchs Dorf getrieben worden und man soll nun wissen, was man davon zu halten hat. Da hat der Gorbatschow das gesagt oder der Bush jenes gesagt, und was halten Sie davon? Und man muss ex prompt irgendetwas dazu sagen. Das ist mir einfach unbehaglich gewesen."
Weltgeschichte und Hemdsärmeligkeit Seit´ an Seit´
Keine Frage, in der DDR-Politik haben sich 1990 Weltgeschichte und Hemdsärmeligkeit beispiellos verbunden. Allein Richard Schröders Anfänge als Verfassungsexperte!
"Ich habe mir, glaube ich, 1975, von meinem Bremer Freund unter dem Fußabstreicher im Auto das Exemplar eines Grundgesetzes mitbringen lassen. Und wie das aussah, das Grundgesetz, das wusste ich also dann schon immerhin..."
Und was konnte die Volkskammer objektiv ausrichten? Jens Reich beklagt immer noch die Dominanz der Exekutive über die Legislative, der gehetzten Regierung über das beratschlagende Parlament.
"Bei dem Einigungsvertrag war natürlich die Komik, dass wir den Beitritt am 3. Oktober schon beschlossen hatten, bevor wir überhaupt einen Entwurf des Einigungsvertrags gesehen hatten."
Immerhin, nicht immer hat die Volkskammer West-Wünsche vollstreckt. Die Hauptstadt-Frage blieb offen, Differenzen im Abtreibungsrecht blieben erhalten. Nach der Einheit würde man's regeln. Umgekehrt machte sich die DDR-Regierung erfolgreich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze stark, für das Stasi-Unterlagengesetz, für Naturschutzgebiete.
Eppelmann: "Wenn man davon ausgeht, dass der eene Hund ist und der andere Schwanz ist, hat der Hund sich ganz schön auch nach uns Schwanz bewegen müssen."
Und Summa summarum?
Reiche: "Wenn Sie mich nach Visionen und Illusionen fragen, dann kann ich mit einem ganz anderen Programm kommen. Aber ich weiß nicht, ob das für den Tag heute, wo wir nun das letzte Jahr, das beste Jahr der DDR feiern, in den Streit geraten sollen darüber."
Eppelmann: "Die anderen können doch sagen, wir wir anderen hier auch: Dat war das schönste Jahr der DDR, das war die veränderte DDR und heute leben wir unter Verhältnissen, da können wir sagen: Danke! Danke! Danke! Uns und allen, die dazu beigetragen haben."