Debattenkultur

Wo bleibt die Grauzone?

04:10 Minuten
Menschen debattieren.
Mehr Bescheidenheit, mehr Reflexion - und mehr Mut zur Unentschlossenheit fordert die Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel. © imago/Ikon Images
Ein Plädoyer von Sophie Pornschlegel · 10.04.2019
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Ob Brexit, Homo-Ehe oder #FridaysforFuture: In der öffentlichen Diskussion scheint es derzeit nur noch Schwarz und Weiß, Freund oder Feind zu geben. Wir müssen wieder lernen, dass auch andere Meinungen legitim sein können, meint Sophie Pornschlegel.
Bei einer Diskussion unter Freunden letzte Woche konnte ich nicht sagen, ob ich in der Venezuela-Krise eher mit dem Maduro- oder dem Guaidó-Lager sympathisiere. Daraufhin entstand betretenes Schweigen. Was denn nun? Anscheinend war man verwundert darüber, dass eine Politikwissenschaftlerin keine eindeutige Meinung hat – auch wenn sie keine Südamerika-Expertin ist.
Unsere Akzeptanz für Unentschlossenheit ist klein. Das hängt stark damit zusammen, dass in der öffentlichen Debatte oft nur noch das einfache "Entweder-Oder" zählt: Man ist für oder gegen den Brexit, für oder gegen die Homo-Ehe, für oder gegen die #FridaysforFuture.

Wir sehnen uns nach einfachen Lösungen

Natürlich ist es gut, sich Gedanken zu diesen Themen machen und eine klare Meinung zu vertreten. Eine gelangweilte "Ist-mir-doch-egal"-Haltung ist keine Option. Es wäre auch vollkommen töricht, in Sachen Klimawandel "unentschlossen" zu sein. Den Klimawandel machen nur die zur Meinungssache, die auch die Grundrechenarten für Fake News halten. Aber darum geht es nicht.
Die zunehmende Komplexität von politischen und gesellschaftlichen Sachverhalten hat dazu geführt, dass wir uns immer mehr nach einfachen Lösungen sehnen. Gleichzeitig geht uns das Verständnis für Ambivalenz verloren. Wir wollen nicht mehr anerkennen, dass es in vielen Situationen Argumente und Gegen-Argumente gibt, die beide gleichermaßen legitim sind.

Mit Clicks und Likes die Meinung ausdrücken

Leider nimmt der Kategorisierungs-Drang in unserer Öffentlichkeit immer weiter zu. Wir ertrinken regelrecht im permanenten Informationsfluss. Die Aufmerksamkeitsökonomie zwingt uns dazu, im Sekundentakt zu selektieren zwischen "relevanten" und "irrelevanten" Informationen. In den sozialen Medien gibt es eine "unsichtbare Hand", die uns permanent dazu zwingt, möglichst viel Meinung zu produzieren.

Clicks und Likes sind die Produkte der Aufmerksamkeitsökonomie. Je mehr davon produziert wird, desto besser. Inhalt und Qualität sind zweitrangig. Diese medialen Bedingungen haben unmittelbare Folgen für unsere Fähigkeit, Debatten führen, Meinungen abwägen, überlegte Entscheidungen treffen zu können.
Der permanente Meinungs- und Selektionszwang hat dazu geführt, die politische Landschaft immer stärker zu polarisieren, sodass sich unversöhnliche Pro- und Contra-Lager entgegenstehen, für die sich die klickenden User bequem und schnell entscheiden können. Je schriller die Gegensätze, desto leichter die spontane Entscheidung und die Bereitschaft zur affektiven Identifikation.

Wir müssen wieder andere Meinungen aushalten

Sie dürfte aber auch noch mit einer tieferliegenden Unsicherheit zusammenhängen. Vielleicht klammern wir uns an oberflächliche, tagesaktuelle Streitfragen, die zu Großentscheidungen aufgeblasen werden, weil wir moralisch unsicher sind und im Grunde nicht mehr genau wissen, was wichtig und unwichtig, richtig und falsch ist.
Die ständigen Polarisierungen sowie die mangelnde Fähigkeit, andere Meinungen auszuhalten, liegen womöglich am brüchigen Fundament der eigenen moralischen Werte. Ein "moralischer Kompass", der früher durch den Glauben mitgegeben wurde, ist heute kein erzwungenes Korsett mehr. Das bedeutet, dass unsere Gesellschaft sich liberalisiert hat, dadurch zweifellos auch toleranter geworden ist. Die Kehrseite könnte allerdings sein, dass dadurch auch die Identitätspolitik stärker geworden ist. Überlegte Entscheidungen werden durch unüberlegte Gruppenzugehörigkeiten und die entsprechenden Affekte ersetzt.
Ob wir Ambivalenz zulassen, hat schließlich auch damit zu tun, ob wir freies Denken zulassen. Mit "freiem Denken" sind keine Hassreden, Beleidigungen oder diskriminierende Haltungen gemeint, sondern ein Raum, in dem nicht ständig ge- und verurteilt wird, wenn eine legitime konträre Haltung vertreten wird. Einer konstruktiven öffentlichen Debatte würde deshalb mehr Bescheidenheit, mehr Zeit zur Reflexion - und ein wenig Unentschlossenheit – sehr gut tun.

Sophie Pornschlegel ist Politikwissenschaftlerin und Projektmanagerin beim Progressiven Zentrum im Programmbereich Zukunft der Demokratie. Dort beschäftigt sie sich u.a. mit Projekten zu Repräsentation, politischer Teilhabe und Parlamentarismus in Europa. Ehrenamtlich engagiert sie sich als Vorstandsmitglied beim grassroots-Thinktank für Europa- und Außenpolitik Polis180 und ist in dieser Funktion für das internationale Netzwerk verantwortlich.

© Progressives Zentrum / Per Jacob Blut
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