Debattenkultur
Was macht Intellektuelle aus - was können, sollen, dürfen sie? Das Bedürfnis nach Orientierung bleibt groß, sagt Carlos Spoerhase. © Getty Images / VectorMine
Wofür brauchen wir Intellektuelle?
25:55 Minuten
Seit dem Streit um Waffenlieferungen für die Ukraine ist eine hitzige Debatte auch darum entbrannt: Was können, was sollen, was dürfen Intellektuelle? Und ist diese Rolle überhaupt noch zeitgemäß? Oder brauchen wir stattdessen eher Expertinnen?
Erst ein offener Brief, der deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert, dann ein offener Brief, der genau diese Lieferungen unterstützt – in beiden Fällen unterzeichnet von zahlreichen Professoren, Schriftstellerinnen, Künstlern, Publizistinnen, kurz: Menschen, die wir oft als „Intellektuelle“ bezeichnen – oder die sich selbst so bezeichnen. Denn genau die Frage, wer diesen Titel verdient und was Intellektuelle eigentlich leisten können, wird seitdem heftig debattiert. In manchen Reaktionen klingt „intellektuell“ beinahe wie ein Schimpfwort.
Was also macht eine Intellektuelle eigentlich aus? Und wie sehr, in welcher Weise sollte sie sich einmischen?
Stellvertretend die öffentliche Meinung aushandeln
„Der Begriff des Intellektuellen ist immer unsicher und umstritten“, betont der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase von der Universität Bielefeld. Insofern ist die aktuelle Debatte keine Ausnahme.
Bezeichnend sei, „dass die Figur des Intellektuellen in einer konfrontativen Konstellation entsteht“. Das sei schon Ende des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen, als der französische Schriftsteller Émile Zola in einer großen Zeitung die antisemitisch motivierte Verurteilung des Offiziers Alfred Dreyfus anklagte. Auch damals sei, so Spoerhase, der Begriff des „Intellektuellen“ nicht nur positiv, sondern auch abwertend genutzt worden.
In dieser Urszene zeigen sich zwei wichtige Charakteristiken der Figur des Intellektuellen: Die Intervention in einer massenmedialen Öffentlichkeit, in der widersprüchliche und oft auch „polemisch aufeinander bezogene Standpunkte“ aufeinandertreffen und sozusagen stellvertretend die öffentliche Meinung aushandeln. Und ein gewisser „universalistischer Zug“: Der Anspruch, für das Allgemeine einzutreten (in diesem Fall gegenüber der Diskriminierung eines Juden).
Zu wenig Expertise?
Die aktuelle Debatte dreht sich für Spoerhase nicht zuletzt um die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Figur der Intellektuellen und der des Experten. Ein Hauptvorwurf der Kritiker: Viele der Intellektuellen, die sich zu Wort gemeldet haben, würden normativ argumentieren, im luftleeren Raum, an der wirklichen Welt vorbei – und ohne die nötige Expertise.
Für ganz unberechtigt hält Spoerhase diesen Vorwurf nicht: „In der Debatte gab es viele intellektuelle Beiträge, die sich nicht auf Empirie, auf historisches Wissen einlassen, sondern sehr schnell abstrakte Positionen formulierten. Andererseits ist das etwas, was in die Rolle des Intellektuellen auch eingebaut ist: sich auch über Dinge zu äußern, in denen man keine Expertise hat.“
Insofern warnt Spoerhase davor, diesen Vorwurf zu scharf zu formulieren, „denn sonst bewegt man sich in eine Richtung, in der man nur noch Experten als Diskurspartnerinnen und Diskurspartner möchte – und alle anderen tendenziell ausschließt“.
Das aber entspreche womöglich nicht unserem Anspruch an eine demokratische Öffentlichkeit: „Sind wir nicht alle auch intellektuell immer gefragt, obwohl wir in den meisten Fällen keine Experten sind? Und wollen wir nicht auch Meinungen von Personen hören, die wir für ihr Renommee in einem bestimmten Bereich schätzen – auch wenn wir wissen, sie sind keine Experten für die ukrainische Geschichte und militärische Fachfragen?“
Bedürfnis nach Orientierung
Dieses Bedürfnis nach einer allgemeinen Orientierung hält Spoerhase für nach wie vor stark ausgeprägt – die vielen Teilöffentlichkeiten im Zuge von Social Media verstärkten das Bedürfnis nach einer „Zentrierung“ von Debatten eher noch.
Der Versuch, das zu leisten ist es letztlich, was die Figur der Intellektuellen für Spoerhase ausmacht: „aus einer partikularen Position heraus allgemeine Anliegen einer Gesellschaft beobachten, reflektieren – und dann, im Sinne dieses Allgemeinen zu sprechen.“
Dass dieser Spagat gelingt, sei keinesfalls garantiert – aber den Anspruch auf das Allgemeine aufzugeben und „in der Partikularität zu verharren“, sei ja auch keine Lösung.
Entscheidend wäre, „dass Intellektuelle ihre eigene Position in der Gesellschaft, die ihnen dann auch bestimmte Sprecherpositionen mitliefert, reflektieren“ – und wie stark ihre Positionen mit universalem Anspruch durch ihre konkrete Situation beeinflusst sind.