Debattenkultur

Zur Sache, bitte!

03:56 Minuten
Collage von Personen, die diskutieren.
"Das Spiel des 'ob, wie und wer' über etwas reden darf, ist die wirksamste Ablenkung von der Sache, um die es geht", beklagt Sieglinde Geisel. © imago/Ikon Images/Donna Grethen
Überlegungen von Sieglinde Geisel · 23.12.2019
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Klimawandel, Populismus, Krise der Demokratie: Es gäbe so viele Sachthemen, über die wir ernsthaft sprechen müssten. Stattdessen geht es im Netz und im Feuilleton oft nur darum, wer wann was wie sagen darf. Pseudo-Debatten, findet Sieglinde Geisel.
Kassandras Schicksal bestand darin, dass niemand ihren Warnungen glaubte. Greta Thunbergs Schicksal besteht darin, dass ihre Warnung durch ihre Person ersetzt wird. Das Schauspiel wiederholt sich bei jeder Gelegenheit: Die Frage, ob Greta ihre ICE-Fahrt auf Twitter angemessen kommuniziert hat, erhitzte die Gemüter bis zur Kernschmelze, während das Totalversagen des Klimagipfels in Madrid kaum der Rede wert war.
Es ist eins der Lieblingsspiele in Feuilleton und Netz: der Metadiskurs zur Abwehr des Diskurses. Wer darf was wie über wen sagen und warum – so geht dieses Spiel. Die wichtigste Spielregel besteht darin, dass das, worum es eigentlich geht, ausgespart bleiben muss. Denn erst, wenn man sich nur noch um das "Wie" kümmert und nicht mehr um das "Was", ist die Zirkusarena frei für die Wortgefechte, sei es mit der Keule oder mit dem Florett. Es ist ein Spiel, das nichts kostet und bei dem jeder mitmachen kann: Gewonnen hat, wer seine moralische Überlegenheit am virtuosesten durch die Kommentarspalten wirbelt. Je ernster die Sache ist, desto abgehobener wird der Diskurs, der von ihr ablenken soll.

Diskussionen in der moralischen Hochrisikozone

Wochenlang wurde dieses Spiel anlässlich Peter Handkes Einlassungen über Serbien gespielt: Über die Wirklichkeit des ersten europäischen Kriegs der Nachkriegszeit mochte kaum jemand diskutieren, statt dessen wog man Handkes Worte auf diversen Goldwagen. Das tonnenschwere Leid, von dem Handkes Worte handeln oder eben nicht handeln, interessierte dabei keinen.
Weil solche Diskussionen in der moralischen Hochrisikozone stattfinden, bewegt man sich permanent an der Schmerzgrenze, insbesondere, wenn es um die deutsche Vergangenheit geht. Als das Zentrum für politische Schönheit vor kurzem die Asche von Holocaustopfern zum Gedenken nach Berlin brachte, waren der stellvertretend verletzten Gefühle viele: Es ging um die Totenruhe der nie bestatteten Opfer, um die Frage, wem sie gehörten und ob sich die Aktionskünstler der Opfer für ihre eigenen Zwecke bedienten – you name it. Und wenn die Argumente ausgehen, bleibt immer noch der Vorwurf der Geschmacklosigkeit. Als wäre das alles nur eine Frage des Geschmacks. Was dann wohl die eigentliche Geschmacklosigkeit wäre. Worüber sich wiederum trefflich streiten ließe.

Wir verausgaben uns in Pseudodebatten

Früher wurde der Überbringer der unwillkommenen Nachricht geköpft, heute knöpft man ihn sich vor. Hat Kassandra ihre Worte richtig gewählt? Hat sie überhaupt die Kompetenz, die Nachricht zu überbringen? Und hält sie selbst auch wirklich alles ein, was sie predigt? Wir reden über Kassandra, um nicht über ihre Worte reden zu müssen, denn das Spiel des "ob, wie und wer" über etwas reden darf, ist die wirksamste Ablenkung von der Sache, um die es geht. Sei es der tabuisierte Jugoslawienkrieg, der Holocaust oder die Erderwärmung – wir tun alles, um das Unerträgliche nicht in unser Bewusstsein hineinzulassen.
Ein ums andere Mal verausgaben wir uns in Pseudo-Debatten und leugnen das Offensichtliche. Paradoxerweise hat die ganze Aufregung das Ziel, uns nicht aus unserer Ruhe zu bringen. Wir immunisieren uns gegen Kassandras Botschaft, wohl wissend, dass es mit unserer Ruhe vorbei wäre, wenn wir uns ihrer Nachricht zuwenden würden. Ein ums andere Mal verausgaben wir uns in Pseudo-Debatten und leugnen das Offensichtliche. Paradoxerweise hat die ganze Aufregung das Ziel, uns nicht aus unserer Ruhe zu bringen. Wir immunisieren uns gegen Kassandras Botschaft, wohl wissend, dass es mit unserer Ruhe vorbei wäre, wenn wir uns ihrer Nachricht zuwenden würden.

Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin-Kreuzberg, von 1994 bis 1998 war sie Kulturkorrespondentin der "NZZ" in New York, von 1999 bis 2016 in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU Berlin hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik, an der Universität St. Gallen gibt sie Schreibworkshops für Doktoranden. Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).

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