Die Scheu vor der Wiederbelebung
08:30 Minuten
In Deutschland trauen sich weniger Menschen eine Wiederbelebung per Herzmassage zu als im europäischen Durchschnitt. Auch öffentliche Defibrillatoren, also Schockgeräte, werden kaum genutzt. Warum machen uns Erste-Hilfe-Maßnahmen so nervös?
"Hallo, hallo?" spricht der Helfer den bewusstlosen Patienten an und testet seine Atmung. Als er keine Reaktion erhält, schaltet er den Defibrillator ein, öffnet das Hemd des Patienten und klebt zwei Elektroden auf seinen freien Oberkörper. "Schock auslösen" tönt das Kommando einer leicht blechernen Stimme aus einem viereckigen, etwa Handtaschengroßen Gerät. Doch der Stromstoß durchs Herz bleibt aus.
Was klingt wie der Ernstfall, ist nur eine Übung, der Patient nur aus Gummi. Erste-Hilfe-Schulung beim Arbeiter Samariterbund in Berlin-Prenzlauer Berg. Zehn Teilnehmer sitzen im Kreis im Schulungsraum und lauschen konzentriert den Ausführungen von Manuel Anhold, Erste-Hilfe-Ausbilder und Regionalverbandarzt.
Einsatz beim "Kammerflimmern"
Dabei ist die Benutzung des Defibrillators eigentlich nur eine Begleitmaßnahme. Viel wichtiger ist die Herz-Lungen-Wiederbelebung. Sie soll man auch im Erste-Hilfe-Kurs schwerpunktmäßig erlernen und anwenden. Denn sie hält Menschen am Leben, wenn der Kreislauf nicht arbeitet. Der Defibrillator, kurz Defi, kommt bei plötzlich eintretenden Herzrhythmusstörungen, sogenanntem "Kammerflimmern" zum Einsatz.
"Das Herz kann, zum Beispiel wenn ein schwerer Herzinfarkt da ist, plötzlich ganz chaotisch reagieren, dann funktioniert es nicht richtig", erklärt Manuel Anhold. "Unser Kreislauf agiert nicht richtig, und dieser Defibrillator ist in der Lage, diesen chaotischen Strom wegzuzaubern und kann dem Herz die Chance geben, dass es wieder im eigenen Takt weiterschlägt."
Viele kämpfen mit Hemmschwellen
Doch die an öffentlichen Plätzen installierten Defis werden nur selten genutzt, weil viele Menschen entweder nichts von ihrer Existenz wissen oder eine Hemmschwelle haben, sie im Notfall auch einzusetzen. "Der Defibrillator ist etwas sehr Technisches, und ich glaube, der macht einfach Berührungsängste, und das erfordert einfach viel Übung auch", sagt Manuel Anhold.
In den Hallen am Borsigturm, einem beliebten Einkaufscenter im Norden Berlins, hängt seit 2011 ein an der Kundeninformation. Fünf Notfälle gab es seitdem, und in allen Fällen konnte der Patient gerettet werden. Einmal im Jahr wird das Personal des Centers in Erster Hilfe geschult. So auch Frank Thiery, im Wachdienst als Streife angestellt.
"Die Menschen gehen zwar auf andere zu, wenn sie sehen, da wird Hilfe benötigt, aber sobald es sich ums Medizinische dreht, sind die meisten viel zu sehr verunsichert. Und daraus resultiert diese Scheu, irgendetwas in die Wege zu leiten."
"Man kann ja leicht was falsch machen"
Den meisten Besuchern der Borsighallen ist der Defibrillator kein Begriff.
"Ich kenne das Wort nur von meiner Schwester, die hat einen Defi. Und zutrauen? Nein. Ich hätte Angst, da zu viel Schaden zu verursachen, man kann ja leicht was falsch machen."
"Wird schwierig. Kein Umgang. Gesehen, aber nie damit gearbeitet."
"Ich bin Physiotherapeutin von Beruf und musste leider eine Patientin schon mal wiederbeleben. Das war nicht schön, aber ich hab’s geschafft, aber das reicht mir auch. Nochmal nicht, bitte!"
"Wird schwierig. Kein Umgang. Gesehen, aber nie damit gearbeitet."
"Ich bin Physiotherapeutin von Beruf und musste leider eine Patientin schon mal wiederbeleben. Das war nicht schön, aber ich hab’s geschafft, aber das reicht mir auch. Nochmal nicht, bitte!"
In Deutschland trauen sich weniger Menschen eine Wiederbelebung per Herzmassage zu als im europäischen Durchschnitt, sagt Jan-Thorsten Gräsner, Rettungsmediziner und Koordinator des Deutschen Reanimationsregisters.
"Wir sind bei 39 Prozent Laien-Reanimationsquote. Das heißt, in 39 Prozent der Fälle trifft der Rettungsdienst ein und trifft auf jemanden, der bereits mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen hat. 39 Prozent, das klingt erstmal gar nicht so schlecht. Wenn man sich den europäischen Schnitt von 52 Prozent anguckt, denkt man schon: naja, da geht noch was, und spätestens, wenn man nach Skandinavien schaut, wo wir 70 bis 80 Prozent Laien-Reanimationsquote haben, kann man erkennen, dass tatsächlich noch Luft nach oben ist."
Erste Hilfe als Schulfach
Was also machen die Skandinavier besser? Sie setzen auf mehr Aufklärung und mehr Schulung, sagt Gräsner. Und sie haben Erste Hilfe als normales Schulfach von klein auf.
"Ich glaube, es ist gar nicht notwendig, einen kompletten Erste-Hilfe-Kurs von neun Stunden für jeden anbieten zu müssen. Wir können viel kleiner und einfacher einsteigen. Zwei Stunden, eine Stunde aus Bio, eine Stunde aus Sport, das ab der 7. Klasse reicht erstmal voll und ganz aus, um Schülerinnen und Schüler in die Position zu bringen, Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen. Wenn man im 1. Jahr die Druckmassage lernt, in der 8. Klasse das Beatmen dazu, in der 9. Klasse dann den Defibrillator dazu nimmt, dann hat man genau dieses Bronze-Silber-Gold oder dieses Stufenmodell letztlich umgesetzt."
Rettungsmediziner gehen von 75.000 Herzstillstand-Fällen jährlich aus. 5-8000 von ihnen werden erfolgreich reanimiert. Man könnte die Zahl der Geretteten um 10.000 erhöhen, wenn die Rettungskette von A-Z optimal greifen würde, ist Gräsner überzeugt. Dazu gehört auch eine schnellere Ankunft des Ersthelfers am Unfallort. Denn jede Minute zählt.
Kampf für mehr Aufklärung
Das weiß auch der Kardiologe Anwar Hanna, Chefarzt der Medizinischen Klinik im Gesundheitszentrum Bitterfeld, der zugleich Notarzt ist für die gesamte Region. Seit Jahren vermittelt Hanna in Herzseminaren, wie auch Laien im Notfall Leben retten können, kämpft landesweit für mehr Aufklärung. Dazu hat er jetzt das Pilotprojekt "KatRetter" ins Leben gerufen.
"Da ist die Feuerwehr mit einbezogen, THW, die Leitstelle und jetzt natürlich die KatRetter, das ist wichtig. Alles kommt aus einer Quelle, damit jeder mit dem System zurechtkommt, und keine Missverständnisse entstehen. Standardisieren ist das A und O bei diesen Sachen."
Das vom Fraunhofer-Institut Berlin entwickelte Konzept funktioniert relativ einfach. Ersthelfer, die sich bereit erklären, Menschen bei plötzlichem Herzstillstand zu helfen, werden entsprechend geschult und mit einer App ausgestattet. Sobald in der Leitstelle des Rettungsdienstes ein Notruf eingeht, kann der Dispatcher sofort orten, welche Ersthelfer sich in der Nähe des Patienten aufhalten. Sie werden dann über die App informiert und bei Rückmeldung zum Einsatzort geleitet. Ist in der Nähe des Einsatzortes ein AED, also ein automatisierter externer Defibrillator, vorhanden, wird auch das über die App signalisiert.
"Wir sind jetzt dabei, hier im Landkreis eine App zu entwickeln, wo diese AED stehen, wie viele wir hier haben und vielleicht gezielt was dazu kaufen, dass wir flächendeckend irgendwann AED installieren", sagt Anwar Hanna.
26.000 registrierte Defibrillatoren
Tatsächlich gibt es bundesweit weder ein einheitliches Kataster noch eine Meldepflicht für Defibrillatoren. Der gemeinnützige Verein "Definetz" versucht hier Abhilfe zu schaffen. Mit etwa 26.000 registrierten Geräten verfügt er über die nach eigenen Angaben umfangreichste Datenbank in Deutschland. Die Daten recherchieren die 180 Mitglieder größtenteils selbst, sagt der Vorsitzende Friedrich Nölle. Die Zahl nicht erfasster Defibrillatoren sei daher immer noch sehr hoch. Grundsätzlich gebe es aber einen starken Trend zu mehr öffentlichen Schockgeräten in Deutschland, sagt Nölle, der aus eigener Erfahrung um die Bedeutung der Ersten Hilfe weiß.
"Ich bin zufällig durch einen Freund angesprochen worden, war in einem Erste-Hilfe-Kurs, und da sind auch Reanimationsmaßnahmen gelehrt worden. 14 Tage später ist mein Vater im Badezimmer umgefallen und am plötzlichen Herztod verstorben. Und ich bin runtergegangen, hab ihn reanimiert, damals gab es noch keinen Defi bei uns, aber der kam aufgrund glücklicher Umstände sehr schnell bei uns im Haus an , der RTW war sehr schnell da, innerhalb von sechs Minuten, und ich hab im Ergebnis neun Jahre lang weiter einen Vater gehabt und mich braucht niemand davon überzeugen, dass es sinnvoll ist, Erste-Hilfe-Maßnahmen, in dem Fall Herz-Lungen-Wiederbelebung und einen Defi einzusetzen."