Weltwirtschaft im Lieferkettenstau

Die scheinheilige Klage des globalen Nordens

Eine Grafik zeigt ein Schiff, im Hintergrund Zahlen, Kräne und eine Weltkarte.
Aus der Sicht der Nordens haben die Länder des Südens als Lieferanten von billigen Rohstoffen und Vorprodukten zu funktionieren, kritisiert der Wirtschaftsjournalist Stephan Kaufmann. © imago/ Ikon Images / Roy Scott
Ein Standpunkt von Stephan Kaufmann · 04.05.2022
Der globale Süden ist es gewohnt, von Entwicklungen im Norden abhängig zu sein. Letzterer erlebt das jetzt umgekehrt durch Chinas No-Covid-Politik und ruft gleich das „Ende der Globalisierung“ aus, kritisiert Wirtschaftsjournalist Stephan Kaufmann.
Chinas Häfen gleichen derzeit einem angesagten Club, vor dem sich lange Schlangen bilden, weil der Türsteher nur Auserwählte einlässt. Hunderte Schiffe warten dort auf Abfertigung, es ist der Flaschenhals der globalen Ökonomie.
Um vom Schiff auf den Lastwagen zu gelangen, braucht Importware derzeit zwölf Tage, drei Mal länger als Ende März. Von der Fabrik bis zum Zielhafen in Europa sind Chinas Kühlschränke und Laptops inzwischen 118 Tage unterwegs, doppelt so lang wie vor einem Jahr.
Der Mega-Stau bremst die gesamte Weltwirtschaft. Verursacht hat ihn die chinesische Politik. Peking will mit einer Zero-Covid-Strategie die Ausbreitung der Pandemie verhindern. Die Regierung riegelt Stadtteile und Industriereviere ab: Nichts kommt heraus und nichts hinein.

Zeitverlust ist Geldverlust

Nun könnte man sagen: Kein Problem, irgendwann werden Chinas Häfen wieder geöffnet und dann wird das Wachstum eben nachgeholt. Doch so funktioniert der Kapitalismus nicht. Denn in ihm zählt nicht nur die Masse des Wachstums, sondern auch seine Geschwindigkeit.
Jedes Gut, das heute nicht verkauft wird, obwohl es verkauft werden könnte, ist für Unternehmen ein entgangener Gewinn - und damit ein Verlust. Denn Zeit ist Geld und Zeitverlust ist Geldverlust.
Chinas Pandemiepolitik ist daher teuer für die hiesigen Unternehmen und wird mit Unwillen quittiert. Was macht der Chinese da, wird gerätselt, warum fährt er nicht die gleiche Strategie wie wir in Europa, wo Häfen und Geschäfte offen sind und wo sich das Virus ausbreiten kann, solange die Krankenhäuser nicht überlaufen?

Eine bemerkenswerte Anspruchshaltung

Dahinter steht eine bemerkenswerte Anspruchshaltung nicht nur gegenüber China, sondern auch gegenüber anderen Ländern. Sie haben als Lieferanten von billigen Rohstoffen und Vorprodukten zu funktionieren, ihre Güter sind als Input für das hiesige Wachstum fest verplant.
Kommt es zu Verzögerungen, so gilt dies hierzulande als unerträgliche Abhängigkeit vom Ausland, die vermindert werden muss – „Reshoring“ heißt die Parole, also das Zurückholen von Produktion in den eigenen Machtbereich. Oder wie es die US-Finanzministerin ausdrückt: „Friend-shoring“, die Verlagerung von Unternehmen in „befreundete“ Länder.
Mit ihrer Abhängigkeit vom Ausland bekommen die reichen Industriestaaten etwas zu spüren, das im globalen Süden der Normalzustand ist. In Billiglohn- und Rohstoffländern von Asien über Afrika bis Lateinamerika ist man es gewohnt, von der Konjunktur in Europa und Nordamerika abhängig zu sein. Als sich die Banken im reichen Norden mit Hypothekenpapieren verspekulierten und 2008 eine Finanzkrise auslösten, rauschten die Rohstoffpreise um 40 bis 70 Prozent in die Tiefe und zogen so den armen Süden mit.

Logistik als Herrschaftsinstrument

Als in Europa und Nordamerika Lockdowns gegen Covid beschlossen wurden, mussten die Rohstoffländer erleben, wie sich ihre Hauptexportgüter um bis zu 75 Prozent verbilligten. Der Süden hängt am Bedarf des Nordens: Wenn der schrumpft, ist im Süden Krise angesagt. Und wenn im Norden die Zentralbanken die Zinsen für Kredite teurer machen, werden auch im Süden die Zeiten härter.
Nun hat der Norden die Pandemie als mehr oder weniger überwunden erklärt und seine wirtschaftliche Erholung auf die Tagesordnung gesetzt. Die Zutaten für diese Erholung, davon wird selbstverständlich ausgegangen, werden preisgünstig geliefert – und zwar von jener Ländergruppe, die in vielen Statistiken der Einfachheit halber als „Rest der Welt“ bezeichnet wird.
Da es hier derzeit vereinzelt hakt, da die globalen Liefer- und Logistikketten nicht ganz reibungslos funktionieren, wird im Norden nun die eigene Ohnmacht beklagt und das „Ende der Globalisierung“ ausgerufen. Das zeigt, wie selbstverständlich der globale Norden davon ausgeht, dass die Globalisierung zu seinem Nutzen eingerichtet ist. „Logistik“, schreibt der dänische Sozialwissenschaftler Sören Mau, „ist nicht bloß eine Frage der Kostensenkung. Sie ist eine Waffe, ein Mechanismus der Herrschaft.“

Stephan Kaufmann hat Ökonomie studiert und arbeitet als Wirtschaftsjournalist in Berlin. Er arbeitet für die "Frankfurter Rundschau", den "Freitag", das "Neue Deutschland" und andere Zeitungen.

Porträt des Wirtschaftsjournalisten Stephan Kaufmann
© privat
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