Sieben Bücher der Stunde
„Dekolonisiert euch!“, dieser Ruf hat die Programme von Deutschlandradio durchs Jahr begleitet. Ob sich das Thema nicht längst erledigt hat, seit die afrikanische Staaten um 1960 in die Unabhängigkeit aufbrachen?
Die Antwort gaben 2020 Ereignisse wie diese: neue Diskussionen um die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter aus europäischen Museen; neues Ringen um Reparationen für den deutschen Völkermord an den Herero und Nama; im Frühling ein großer Streit über den aus Kamerun stammenden Postkolonialismus-Forscher Achille Mbembe, im Herbst eine Auseinandersetzung über den Begriff "Rasse" im Grundgesetz. Und nach dem Mord an George Floyd in Minnesota bekam die "Black Lives Matter"-Bewegung neuen Auftrieb, nicht nur in den USA; Denkmäler stürzten, eherne Figuren wie Bismarck stehen seitdem neu zur Debatte. Das Themenfeld "Dekolonisiert euch! Eine Welt 2.0" scheint aktueller denn je, über den Tag hinaus.
Das beste Medium für diese Langzeit-Aktualität: Bücher. Hier sieben Titel, die unsere Literaturredaktion empfiehlt, sieben Titel, die die Weite des Themas auffächern:
Charlotte Wiedemann, die den "Abschied von der weißen Dominanz" beobachtet. Henning Melber, der die "Anatomie" im Verhältnis zwischen Deutschland und Afrika untersucht. Isabel Figueiredo, die einen Bestseller über das Ende der Kolonialzeit geschrieben hat. Koleka Putuma, die eine "Poetik der Dekolonisierung" entwirft. Daniel Immerwahr mit einem Portrait der USA als heimlicher Kolonialmacht. Richard Wright mit einem Klassiker der schwarzen US-Literatur. Johny Pits mit einer Großreportage von seiner Reise durch das gegenwärtige schwarze Europa.
Sieben Bücher und ein Gespräch mit den Autorinnen Charlotte Wiedemann und Alice Hasters übers "Verstehen und Überwinden des Rassismus".
Ein Teil des kolonialen Erbes ist weiße Dominanz: in der Weltwirtschaft, in internationalen politischen Gremien, in geschichtlicher Deutung, in der Wissenschaft. Die Journalistin Charlotte Wiedemann fordert dazu auf, sich aktiv davon zu verabschieden.
Deutschlands koloniale Vergangenheit ist heute nahezu vergessen. Henning Melber attestiert den Deutschen gar eine "koloniale Amnesie". Zwar nehme die hiesige Politik Afrika zunehmend in den Blick, doch sei die deutsche Haltung weiterhin paternalistisch.
In "Roter Staub" verarbeitet Isabela Figueiredo das brutale Wirken ihres Vaters während der Kolonialzeit in Mosambik. Der Roman wurde in Portugal zum Bestseller und räumte mit der Mär von der sanften portugiesischen Kolonialherrschaft auf.
In Südafrika ist "Kollektive Amnesie" von Koleka Putuma ein Bestseller. Die Dichterin gilt als Stimme einer neuen Generation. Ihre Lyrik ist hochpolitisch und experimentell – mit verkappten Bühnenszenen, poetischen Listen oder leeren Seiten mit Fußnote.
Die Macht der USA gründet bis heute auf einem globalen Flickenteppich aus Wirtschafts- und Militärstützpunkten, argumentiert der Historiker Daniel Immerwahr. Mit diesem Inselreich bildeten die USA ein "heimliches Imperium".
"Sohn dieses Landes" spielt im Chicago der 1930er: Beklemmend intensiv und psychologisch eindringlich schreibt der US-Autor Richard Wright über Rassismus. Der Roman erschien erstmals 1940 – für den deutschen Buchmarkt ist er eine Neuentdeckung.
Es ist eine besondere und persönliche Reise: Der englische TV-Moderator, Autor und Fotograf Johny Pitts macht sich auf die Suche nach dem schwarzen Europa. Dabei macht er vor allem die Kolonialgeschichte eines Kontinents sichtbar, der sich allzu oft nur als weiß versteht.
Wo fängt Rassismus an und wo hört er noch lange nicht auf? Die Autorinnen Alice Hasters und Charlotte Wiedemann sprechen mit dem Journalisten Jens Dirksen über Rassismus, deutsche Kolonialgeschichte und eine gleichberechtigte Zukunft.