"Deleuzian Events"
Gilles Deleuze - seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts galt er als eine der meistgefeierten Vertreter des zeitgenössischen französischen Geisteslebens. "Differenz und Wiederholung" sowie "Kapitalismus und Schizophrenie", so hießen zwei seiner Werke, die auch heute noch als Meilensteine in der Entwicklung der Geisteswissenschaften gelten. Die Universität Köln hat nun in Zusammenarbeit mit dem Kölner Literaturhaus eine internationale Konferenz organisiert, die sich mit der Bedeutung von Deleuzes Werk für die Gegenwart beschäftigt.
Es war eine große Verheißung, die der französische Poststrukturalismus seit den späten 1960er Jahren verkündete: Die menschliche Welt ist keine fest gefügte, unabänderliche Ordnung, sondern eine künstliche, verfasst nach den Regeln der menschlichen Sprache. Die Theorie versprach nichts Geringeres, als Diktatur Massenmord und Vertreibung, die zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, endgültig zu überwinden. Denn mit welchem Recht, so ihre Vertreter, sollte man derartige Verbrechen künftig noch verüben können, da sie doch auf Annahmen beruhen, die keineswegs zwingend sind. Doch regte sich in jenen Jahren bereits der Zweifel an der Theorie des Poststrukturalismus. Am entschiedensten äußerte sie der 1925 geborene Philosoph Gilles Deleuze. Der Mensch, so sein Hinweis, sei viel mehr als nur ein sprachbegabtes Wesen. Eben diese Einschätzung, so Professor Hanjo Berressem, einer der Leiter der Kölner Konferenz, macht Deleuze heute wieder interessant,
Berressem: "Zuerst einmal denke ich, dass wir probieren, Deleuze gegen die Logik lesen, dass Politik und Kultur immer schon ein diskursives Konstrukt ist. Deleuze ist für uns spannend gerade darin, dass (…) er probiert, (…) die diskursiven Register und die menschlichen Register daher mit den nicht-menschlichen und nicht diskursiven Registern kurzzuschließen."
Mit Deleuze, könnte man sagen, versucht die abendländische Kultur die Aufklärung neu zu begründen. Schaut man nämlich genauer hin, entdeckt man, dass die Vernunft das Handeln zumindest nicht ausschließlich lenkt. Kein Zweifel, da spielt noch irgendetwas anderes mit. Und dieses "etwas" hat einige Folgen auch für die Politik.
Berressem: "Für uns ist das natürlich (…) die Frage, inwieweit (…) kann sich die Geschichte in natürliche Prozesse oder nicht-menschliche Prozesse einschreiben? Das heißt natürlich, dass Politik auch viel weiter gesehen wird, viel experimenteller auch wird als das normalerweise getan wird. Das ist mit Deleuze, denke ich, sehr viel besser denkbar als mit rein diskursiven Registern, in denen man probiert, wo kommt dieser Diskurs her, weil dann ist man schon wieder im Diskurs. Es geht um Kräfte, um Intensitäten, wo kommen (…) die her, im Endeffekt?"
Was bestimmt den Menschen, gerade in Extrem-Situationen? Wer verfügt etwa, ob die amerikanische Koma-Patientin Terri Schiavo von den medizinischen Geräten abgeschaltet werden darf oder nicht? Diesen Fragen geht der Philologe John Protevi von der Lousiana State University mit Hilfe von Deleuzes Werken nach.
Protevi: "Das Sterberecht in den USA basiert auf dem so genannten Crusan-Fall aus dem Jahr 1990. Dieses Recht erlaubt Menschen, medizinische Behandlung zurückzuweisen, wenn sie im vollen Besitz ihrer körperlichen Kräfte sind. Was aber passiert, wenn die Verwandten eines Erkrankten über dessen Behandlung entscheiden müssen? Sie sind sie emotional höchst erschüttert, denn sie müssen über das Los von Menschen entscheiden, die ihnen sehr nahe stehen. Welche Entscheidungsrechte haben Menschen in einer solchen Situation? Das versuche ich auf der Grundlage von Deleuze zu untersuchen."
Doch nicht nur der einzelne Mensch, auch Gemeinschaften kennen Ausnahmezustände. Als solchen definiert der australische Historiker Paul Pattom das späte 18. Jahrhundert, als die Engländer Australien kolonisierten. Welche Folgen hatte diese Landnahme, was bedeutet sie für das Land heute? Diese Fragen, so Pattom, sind bis heute nicht geklärt.
Pattom: "Deleuze sagt, dass die Geschichtswissenschaft die Vergangenheit immer nur in einigen Aspekten begreift, niemals aber vollständig. Ich wende das auf die Geschichte Australiens an, das 1792 von den Europäern kolonisiert wurde. Dieses Ereignis bestimmt jenseits seiner Ausdeutung durch die Geschichtswissenschaft unser Land bis heute. Eines Tages können wir zu diesem Ereignis vielleicht wieder umfassenden Zugang gewinnen, wenn die Voraussetzungen geeignet sind."
Deleuze, so der Tenor der Konferenz, versucht das Unsichtbare sichtbar zu machen. Oder besser, das zu sagen, wofür die klassischen Geisteswissenschaften bislang keine Sprache hatten. Will man in dieser Richtung fortfahren, so Hanjo Berressem, gilt es, den klassischen Kompetenzbereich der Geistes- und Kulturwissenschaften entschieden auszuweiten.
Berressem: "Das ist für mich das Spannende an Deleuze, dass Deleuze in seiner Arbeit immer schon fasziniert war von den "hard sciences", also er ist wirklich einer der ersten, die in der Philosophie Komplexitätstheorien oder Chaostheorien (…) sofort aufgenommen hat. Das sind Wissensgebiete, die für andere und für die cultural studies sehr oft in ihrer Eigenheit nicht wichtig sind. Sondern es geht nur darum, ja wir haben den medizinischen Diskurs, wie wurden durch den medizinischen Diskurs manche Subjekte zu guten Subjekten und manche Subjekte zu schlechten Subjekten, wer ist krank, wer ist wahnsinnig, wer ist gesund und normal? Es geht also immer nur um die politische Organisation dieser Diskurse, aber es geht gar nicht darum, wie das Wissen dieser Diskurse in diese (…) politischen Ideologien, … wie diese beiden Ebenen verbunden sind."
Wir ahnten es: Der Mensch ist mehr als nur ein Vernunftwesen; irgendetwas schlummert unentdeckt unter unserem zivilisierten Antlitz, das so zivilisiert doch nicht ist. Und diese unentdeckte Region haben wir immer noch nicht im Griff. Es gilt, den Menschen also weiterhin zu entwickeln. Auch wenn uns dafür einstweilen noch die Worte fehlen und wir ein bisschen sprach- und ratlos in die Texte des wilden Denkers aus Frankreich schauen.
Berressem: "Zuerst einmal denke ich, dass wir probieren, Deleuze gegen die Logik lesen, dass Politik und Kultur immer schon ein diskursives Konstrukt ist. Deleuze ist für uns spannend gerade darin, dass (…) er probiert, (…) die diskursiven Register und die menschlichen Register daher mit den nicht-menschlichen und nicht diskursiven Registern kurzzuschließen."
Mit Deleuze, könnte man sagen, versucht die abendländische Kultur die Aufklärung neu zu begründen. Schaut man nämlich genauer hin, entdeckt man, dass die Vernunft das Handeln zumindest nicht ausschließlich lenkt. Kein Zweifel, da spielt noch irgendetwas anderes mit. Und dieses "etwas" hat einige Folgen auch für die Politik.
Berressem: "Für uns ist das natürlich (…) die Frage, inwieweit (…) kann sich die Geschichte in natürliche Prozesse oder nicht-menschliche Prozesse einschreiben? Das heißt natürlich, dass Politik auch viel weiter gesehen wird, viel experimenteller auch wird als das normalerweise getan wird. Das ist mit Deleuze, denke ich, sehr viel besser denkbar als mit rein diskursiven Registern, in denen man probiert, wo kommt dieser Diskurs her, weil dann ist man schon wieder im Diskurs. Es geht um Kräfte, um Intensitäten, wo kommen (…) die her, im Endeffekt?"
Was bestimmt den Menschen, gerade in Extrem-Situationen? Wer verfügt etwa, ob die amerikanische Koma-Patientin Terri Schiavo von den medizinischen Geräten abgeschaltet werden darf oder nicht? Diesen Fragen geht der Philologe John Protevi von der Lousiana State University mit Hilfe von Deleuzes Werken nach.
Protevi: "Das Sterberecht in den USA basiert auf dem so genannten Crusan-Fall aus dem Jahr 1990. Dieses Recht erlaubt Menschen, medizinische Behandlung zurückzuweisen, wenn sie im vollen Besitz ihrer körperlichen Kräfte sind. Was aber passiert, wenn die Verwandten eines Erkrankten über dessen Behandlung entscheiden müssen? Sie sind sie emotional höchst erschüttert, denn sie müssen über das Los von Menschen entscheiden, die ihnen sehr nahe stehen. Welche Entscheidungsrechte haben Menschen in einer solchen Situation? Das versuche ich auf der Grundlage von Deleuze zu untersuchen."
Doch nicht nur der einzelne Mensch, auch Gemeinschaften kennen Ausnahmezustände. Als solchen definiert der australische Historiker Paul Pattom das späte 18. Jahrhundert, als die Engländer Australien kolonisierten. Welche Folgen hatte diese Landnahme, was bedeutet sie für das Land heute? Diese Fragen, so Pattom, sind bis heute nicht geklärt.
Pattom: "Deleuze sagt, dass die Geschichtswissenschaft die Vergangenheit immer nur in einigen Aspekten begreift, niemals aber vollständig. Ich wende das auf die Geschichte Australiens an, das 1792 von den Europäern kolonisiert wurde. Dieses Ereignis bestimmt jenseits seiner Ausdeutung durch die Geschichtswissenschaft unser Land bis heute. Eines Tages können wir zu diesem Ereignis vielleicht wieder umfassenden Zugang gewinnen, wenn die Voraussetzungen geeignet sind."
Deleuze, so der Tenor der Konferenz, versucht das Unsichtbare sichtbar zu machen. Oder besser, das zu sagen, wofür die klassischen Geisteswissenschaften bislang keine Sprache hatten. Will man in dieser Richtung fortfahren, so Hanjo Berressem, gilt es, den klassischen Kompetenzbereich der Geistes- und Kulturwissenschaften entschieden auszuweiten.
Berressem: "Das ist für mich das Spannende an Deleuze, dass Deleuze in seiner Arbeit immer schon fasziniert war von den "hard sciences", also er ist wirklich einer der ersten, die in der Philosophie Komplexitätstheorien oder Chaostheorien (…) sofort aufgenommen hat. Das sind Wissensgebiete, die für andere und für die cultural studies sehr oft in ihrer Eigenheit nicht wichtig sind. Sondern es geht nur darum, ja wir haben den medizinischen Diskurs, wie wurden durch den medizinischen Diskurs manche Subjekte zu guten Subjekten und manche Subjekte zu schlechten Subjekten, wer ist krank, wer ist wahnsinnig, wer ist gesund und normal? Es geht also immer nur um die politische Organisation dieser Diskurse, aber es geht gar nicht darum, wie das Wissen dieser Diskurse in diese (…) politischen Ideologien, … wie diese beiden Ebenen verbunden sind."
Wir ahnten es: Der Mensch ist mehr als nur ein Vernunftwesen; irgendetwas schlummert unentdeckt unter unserem zivilisierten Antlitz, das so zivilisiert doch nicht ist. Und diese unentdeckte Region haben wir immer noch nicht im Griff. Es gilt, den Menschen also weiterhin zu entwickeln. Auch wenn uns dafür einstweilen noch die Worte fehlen und wir ein bisschen sprach- und ratlos in die Texte des wilden Denkers aus Frankreich schauen.