Delphine Horvilleur: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Berlin, Hanser Berlin, 2020
141 Seiten, 18 EUR
Der ewige Antisemit
06:43 Minuten
Hass auf Juden existiert, seit es Juden gibt – und jüdische Philosophen denken darüber schon fast genauso lange nach. Wie, das zeigt die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur in einem stilsicheren und überzeugenden Essay.
Angriffe auf Menschen mit Kippa, der Anschlag in Halle, Morde an Juden in Frankreich, das Erstarken von Rechtsextremen und von Islamisten – Anlässe, sich über die "Frage des Antisemitismus" Gedanken zu machen, gibt es aktuell mehr als genug. Ganz zu schweigen von den seit Jahren wabernden Debatten über genaue Definition und Umfang des Antisemitismus, seine Verbindung zur sogenannten "Israelkritik" – oder die jüngst in Mode gekommenen verqueren Reflexe, auch kritische innerjüdische Debatten als "antisemitisch" einzuordnen.
Um solche aktuellen Entwicklungen geht es im Buch von Delphine Horvilleur aber nur am Rande. Die liberale französische Rabbinerin will deutlich mehr. Sie geht dem Antisemitismus (sie nutzt das Wort als Allgemeinbegriff und nicht nur für die spezifisch moderne Form der Judenfeindschaft) in der Tiefe seiner Geschichte auf den Grund - nicht als Historikerin, auch nicht als Psychologin, sondern als Theologin und Philosophin.
Der Jude und sein Feind tauchen gleichzeitig auf
Zu Hilfe nimmt sie dazu den Talmud und andere rabbinische Quellen - also die frühesten Versuche der Juden selbst, den Hass zu verstehen und zu deuten. Die erste Geschichte eines krankhaften Judenfeindes ist diejenige des Haman, der am Hof des Perserkönigs Ahasveros die Vernichtung der im babylonischen Exil lebenden Juden vorantreibt – was von Ester, der jüdischen Gemahlin des Königs, gerade noch verhindert wird. Tatsächlich ist aber das Buch Ester im Alten Testament auch der Ort, wo zum ersten Mal von "Juden" als einem Volk die Rede ist (und nicht bloß als den Mitgliedern des Stammes Juda). Es ist bemerkenswert: Der Jude und sein Feind, sie tauchen gleichzeitig auf.
Woher aber kommt Haman, und woher kommt sein Hass? Die Rabbiner betreiben genealogische Forschungen, die Horvilleur mit leichter, stilsicherer Hand zusammenfasst. Um selbst den Akzent auf den philosophischen Kern der Sache zu legen: Was den Juden vorgeworfen wird, ist selten kohärent und widerspruchsfrei, aber es dreht sich immer um die Frage der Einheit und der Spaltung, der Identität und der Nicht-Identität. Fremdenfeindlichkeit ist die Verachtung des Anderen, weil er anders ist. Antisemitismus dagegen ist der Hass auf denjenigen, der wie wir ist, aber nicht ganz: Der unseren Gesetzen gehorcht, aber auch seinen eigenen. Der Teil unserer Gesellschaft ist, aber auch ein bisschen anders. Und der damit permanent daran erinnert, dass völlige Einheit unmöglich ist.
Antisemitismus ist damit in Horvilleurs Augen ein Ausdruck des Schmerzes an der fundamentalen Nicht-Einheit, die wir als Menschen erleben. Eine überzeugende Deutung, die dem Denken vieler jüdischer Philosophen verpflichtet ist – von den Talmudisten bis Jacques Derrida.
Judenhass und Frauenhass
Das macht den Antisemitismus dem Frauenhass strukturähnlich – denn auch im Hass auf das "andere" Geschlecht drückt sich die Unsicherheit über die Nicht-Einheit des eigenen aus. Auch für die Parallelen von Antifeminismus und Antisemitismus findet Horvilleur schöne Beispiele bis in die ältesten jüdischen Schriften hinein, bis zurück zu Jakob und Esau.
Gerade weil diese Deutung des Antisemitismus so fundamental philosophisch vorgeht, erscheint sie heute fruchtbar. So lassen sich völlig unterschiedliche Ausdrucksformen auf einen Nenner bringen. Und so lässt sich etwas grundsätzlich Strukturelles über aktuelle politische, kulturelle, gesellschaftliche Debatten sagen: Der Versuch, um jeden Preis eine Einheit herzustellen, ist immer gefährlich. Es ist kein Zufall, dass überall da, wo zu sehr nach einem einheitlichen "Wir" gesucht wird, irgendwann Antisemitismus herauskommt.