Dem Baum den Mantel ausziehen

Von Marcus Weber |
Franziska Uhls Lebens- und Arbeitsplatz war lange Zeit in Berlin. Vor zwei Jahren hatte sie genug vom Lärm und Stress der großen Stadt und zog in ein kleines Dorf in der Nähe von Frankfurt an der Oder – allerdings auf der polnischen Seite des Flusses. Dort bearbeitet sie Baumstämme, lässt aus einem Spalt im Holz die Beine einer Figur entstehen, aus einer Wölbung im Baum ein Schulterblatt oder die Hüfte.
Der eigentliche Bruch mit Berlin geschah im Winter 2000. Bei einem Brandanschlag verlor Franziska Uhl Wohnung und Atelier. Sie selbst rettete sich mit ihrem fünfjährigen Sohn auf den Balkon – und wusste, sie würde in dieser Stadt nicht bleiben können. Damals arbeitete die Künstlerin ausschließlich graphisch – ein Großteil ihrer Lithographien und Radierungen verbrannte ebenso wie ihre Kinderfotos.

"Das ist das Prinzip der Radierung. Man hat diese Platte und man malt darauf, ätzt, ritzt rein. Man verändert diese Platte. Und aus diesem Fehler, dass einem mal was ausrutscht oder was anders geätzt wird, als man sich das gedacht hat. Entweder ist die Platte futsch – man muss sie wegschmeißen. Oder dann ist der Punkt erreicht, der mich grade interessiert. An diesem Punkt weiterzumachen. Aus dieser Veränderung die da ist, was Neues zu machen."

Sich verändern und doch im Kern das Selbst behalten – die Metamorphose, die Verwandlung ist das Hauptthema der Kunst Franziska Uhls. Diesmal allerdings war das Neue gänzlich unerwartet. Noch Monate nach dem Brand hatte Uhl keine Graphik zustande gebracht, dann entdeckte sie – auf einem Symposion in Polen – die Bildhauerei. Mit Motorsäge und Flex schuf sie aus einem Baumstamm ihre erste Skulptur. Der Titel: "Metamorphose".

"Ich säg erst mal so in Grundzügen die Form, die ich haben möchte, so wie sie da ist, und wie ich sie unterstützen kann, indem ich noch was absäge."

Heute geht der Wind rauh über die Oder. Enten fliegen. Das Schilf raschelt, die Wolken ziehen schnell. Nach Westen – Deutschland, nach Osten – Polen. Der Weg führt einen steilen Hang hinauf. 200 Meter durchs Dorf, durch Kunice. Gleich an der Straße steht ihr Haus, eine umgebaute Scheune: roter Backstein, spitzes Dach, große Fenster. Daneben, an einem weiß-blauen Gartenpavillon: Franziska Uhl.

"Die Figur ist schon da. Hier haben wir den Schwung vom Rücken und zur Hüfte, wenn man so genauer hinguckt. Hier haben wir die andere Hüfte ... Diese langen Beine, und dann hat sie so einen Arm, wie zu einer Begrüßung oder wie kurz vorm Tanz oder so, also auf die freu ich mich ganz doll."

Uhl legt die Motorsäge zur Seite und setzt sich auf den Stamm. Mit Hammer und Stechbeitel schlägt sie die Rinde ab. Den Baum zu Entrinden, sagt die 38-Jährige, das sei, als ziehe man ihm den Mantel aus. Dann erst wird seine Form klar sichtbar.

"Ich hör jetzt sehr wenig Musik. Ich hab in Berlin viel Musik gehört. Ich hab auch ganz viel mit Musik gearbeitet. Und jetzt ist es die Stille. Oder draußen das Gezwitscher und der Wind mit dem ich arbeite. Instinktiv hab ich versucht, einen gewissen Lärm zu überdecken, einen gewissen Stadtlärm in Berlin, indem ich Musik anschalte."

Seit Franziska Uhl mit ihrem Sohn und dem polnischen Lebensgefährten die Millionenstadt verließ und in das 70-Einwohner-Kaff zog, hat sie so viele Kunstwerke geschaffen wie nie zuvor. Die Arbeitsbedingungen sind hier einfach besser.

"Hier hab ich die Sachen vor der Tür liegen. Manchmal schau ich nur tagelang drauf, ohne was zu machen, weil ich unschlüssig bin, wo es weitergeht. Aber ich kann eben immer vorbeigehen oder immer rausgucken und das ansehen und das tut der Arbeit einfach gut."

Zwei Monate lang lag die "Stundeneiche" im Garten vor dem Fenster, bevor sich Franziska Uhl herantraute. Die Eiche war ihr erstes Projekt in Kunice – und gleichzeitig das größte: drei Tonnen der Stamm, fünf Meter lang, ein Durchmesser von mehr als einem Meter.

"Da war extrem wichtig: Wo mach ich den Schnitt? – damit am Ende zwei Teile rauskommen, die gegenüberstehen, sich ergänzen und doch was Eigenes wieder sind. Und da hab ich unheimlichen Schiss davor gehabt – weil: ein Schnitt, und es ist vorbei. Kann man auch an der falschen Stelle machen und dann sieht das langweilig aus. Oder ist nicht das, was du dir so gedacht hast. Und wenn ich nicht einen Termin gehabt hätte, dann hätte ich ihn wahrscheinlich noch mal einen Monat später gemacht."

Über ein halbes Jahrhundert hatte die Eiche an der Autobahn des Berliner Rings gestanden. Von ihr bis zum Alexanderplatz brauchte der Kraftfahrer noch eine Stunde – deshalb hieß sie "Stundeneiche".

"Da nutzt auch nicht Anzeichnen – das kannste dir nicht vorstellen. Den Strich kannste machen, aber das ist schon auch ein Stück Glücksache, ob man die richtige Hand hat an dem Tag."

Franziska Uhl hatte – allerdings hatten die Würmer, wie sie sagt, einen nicht unerheblichen Anteil daran. Denn die richtigen Bahnen waren bereits vorgefressen – selbst das gehört für die Künstlerin zur Metamorphose.

Inzwischen schmückt die Stundeneiche den Rathausplatz von Ludwigsfelde, ganz in der Nähe ihres ursprünglichen Standorts. Was sonst noch von ihr übrig blieb, verheizte Franziska Uhl in ihrem schönen Kaminofen. Auch sie hat – im stillen Kunice – ihren Platz gefunden.

"Hier hab ich gemerkt, wie unendlich herrlich Stille sein kann. Es ist nämlich sowieso nie richtig still. In der Stille sind noch ganz viele Töne vorhanden, in dieser vermeintlichen Stille, wie Summen oder Wind oder, oder wenn ein Blatt vom Baum runterfällt oder so. Ja und das ist sehr erholsam (lacht). Was soll ich noch sagen: Es ist schön hier."