Dem christlichen Menschenbild entsprechend
Laut UN-Behindertenrechtskonvention haben behinderte Kinder das Recht, die gleichen Schulen zu besuchen wie alle anderen Kinder. Eine Schule für alle, heißt das Modell der Zukunft. Schulen in konfessioneller Trägerschaft haben die Herausforderung bereits angenommen.
Ein Morgen in der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Es herrscht die Atmosphäre geselliger Konzentration einer Bibliothek. In einer Ecke sitzt eine Gruppe von Mädchen, die sich gegenseitig Englisch-Vokabeln abfragen. An den anderen Tischen arbeiten die Schüler selbstständig, jeder für sich an einer Aufgabe:
"Ich habe einen Englisch-Baustein gerade abgeschlossen und gucke noch mal nach, ob ich alles richtig gemacht habe, damit ich es dann abgeben kann."
"Ich mache einen Mathe-Baustein der heißt Zuordnung, bearbeite den gerade, habe vor ein paar Tagen damit angefangen."
Ein Lernbaustein, das ist eine Karteikarte, auf der mehrere Aufgaben zu einem Thema gestellt werden. Jeder Schüler erarbeitet sich selbst Schritt für Schritt sein Wissen. Der Frontalunterricht ist fast vollständig abgeschafft. Wer nicht weiterkommt, holt sich Hilfe bei seinen Mitschülern, oder zur Not bei einem Lehrer, erklärt Juri:
"Wir haben jetzt gerade keine Mathelehrerin hier. Aber wir haben die Fachlehrer in den Nebenräumen in den anderen Klassen, wenn ich eine Frage habe, kann ich in ein anderes Lernbüro gehen, weil da heute eine Mathelehrerin ist und die kann mir das dann erklären."
Alle Schüler der Jahrgangsstufen 7 bis 9 lernen gemeinsam in einer Klasse. Egal ob Gymnasial- oder Hauptschulempfehlung, es wird nicht nach Leistung getrennt. Davon profitieren alle.
"In Mathe bin ich schneller als die anderen, schätze ich jetzt mal, und da bietet mir das Lernbüro vor allem in Mathe auch sehr viele Freiheiten, weil ich da eben schnell arbeiten kann und nicht daran gehindert werde."
An normalen Schulen gehen Hochbegabte wie der 13-jährige Bennet häufig unter. An der Gemeinschaftsschule Berlin Zentrum lernen sie gemeinsam mit Kindern die Lernschwierigkeiten, eine Hör- oder Sehschwäche oder psychosoziale Probleme haben. Jeder wird in seinen besonderen Bedürfnissen berücksichtigt. Viele Schüler sind auf anderen Schulen gescheitert, und haben erst an der Gemeinschaftsschule wieder die Lust am Lernen gefunden. Martha hatte immer Schwierigkeiten in Deutsch.
"Hier habe ich gemerkt, abgesehen von Rechtschreibung ist das eigentlich mein Lieblingsfach. Dann kann man auch mit Schwächen gut arbeiten, dann sagen die, ok, dann arbeiten wir daran, aber das heißt nicht, dass du verhindert bist, in dem Fach woanders gut zu leisten."
Jeder zählt! Jeder ist einzigartig! Das sei das Motto, sagt Margret Rasfeld, die Leiterin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Als Geschöpf Gottes habe jedes Kind das Recht, als eigenständige Persönlichkeit geachtet zu werden.
"Also die Kinder mit Förderschwerpunkt Lernen, die fallen eigentlich überhaupt nicht auf. Ich glaube, die meisten wissen gar nicht, wer hier ein ausgewiesenes Handikap hat. Die wissen, der hat Schwierigkeiten in Mathe, aber ob der da jetzt einen ausgewiesenen Förderschwerpunkt hat oder ob der eine Dyskalkulie hat, das interessiert die auch nicht."
In Deutschland lernen mehr als 400.000 Schülerinnen und Schüler in Sonderschulen - das sind 85 Prozent der Kinder mit Förderbedarf. Der europäische Durchschnitt liegt bei nur 15 Prozent. Förderschulen sollen die besonderen Schwierigkeiten der Schüler ausgleichen, doch mit wenig Erfolg: Dem Bildungsforscher Klaus Klemm zufolge verlassen über 77 Prozent der Förderschüler die Schule ohne einen Abschluss.
In Deutschland spezialisieren sich Schulen auf zehn Förderschwerpunkte, darunter solche wie Hören oder Sprache, körperliche oder geistige Entwicklung. Einmalig in Europa sind die Sonderschulen für Lernbehinderte. Hierzulande hat fast die Hälfte aller Kinder mit Förderbedarf die Diagnose Lernschwierigkeiten. Inklusion bedeutet daher neben Barrierefreiheit für körperlich Behinderte vor allem, neue pädagogische Konzepte für den gemeinsamen Unterricht zu schaffen. Rasfeld kritisiert das deutsche System der Sortierung:
"Der Grundschullehrer muss schauen, ist der gut genug fürs Gymnasium. Und dann da wieder. Bleibt der sitzen oder nicht. Immer muss man schauen, ist der Schüler gut genug. Der Schüler muss sich ans System anpassen. Und das ist genau die gegenteilige Haltung zu einer Potenziale-Entfaltungskultur. Wo wir ja hinkommen müssen, weil sich auch unsere ganze Gesellschaft wandelt in die Potenzial-Entfaltung. Wir brauchen nicht mehr die Pflichterfüller und die Leute, die angepasst sind und da ihre Arbeitsblätter ausfüllen. Wir brauchen Menschen mit Mut, mit Charakterstärke."
Rasfeld möchte ihre Schule zu einer Inklusiven Schule machen, die ohne Einschränkungen alle Schüler aufnehmen kann, wie es auch die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht. Das bedeutet: Kinder mit besonderem Förderbedarf sind von vornherein dabei, statt erst "integriert" zu werden. Um das finanzieren zu können, müssen an ihrer Schule alle mit anpacken und zum Beispiel auch selbst putzen: Die Lehrer ihre Räume, die Schüler ihre Klassenzimmer und die Eltern die Flure und Toiletten. Von dem Geld, das dadurch eingespart wird, kann die Schule zwei Sonderpädagogen beschäftigen.
"Die Grenzen sind für mich da, wie viele Sonderschullehrer-Stunden ich hab, also wie oft ich Doppelbesetzung machen kann oder Kinder mal zeitweise raus nehmen, die noch irgendwo mehr Förderung brauchen."
Bislang arbeiten bundesweit schätzungsweise zehn Prozent der katholischen Schulen integrativ. Mehr als die Hälfte der evangelischen Schulen unterrichtet vereinzelt Kinder mit Förderbedarf. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland forderte im November, Kinder mit Förderbedarf stärker gemeinsam mit anderen zu unterrichten.
Der Appell richtete sich sowohl an die Politik als auch an die Träger evangelischer Schulen. Auch die Deutsche Bischofskonferenz will im Laufe des Jahres Empfehlungen zur Inklusion herausgeben. Doch es gibt auch Bedenken:
"Ich bin sehr skeptisch, ob in jedem Fall der bessere Schüler den Schlechteren mitreißt. Ich muss genau die andere Bewegung sehen, denn auch das stellen wir fest, auch der schwächere Schüler demotiviert mal den besseren Schüler. Also ich wehre mich eigentlich gegen jede Ideologisierung, ich möchte das Kind sehen und möchte dann gucken, wie gehe ich mit diesem Menschen in seiner Individualität um. Und ich glaube, da gibt es nicht den einen Weg."
Hans-Peter Richter leitet das Schuldezernat im Erzbistum Berlin. Die dortige Förderschule St. Hildegard wurde zu einem Förderzentrum ausgebaut, von dem aus die 18 katholischen Regelschulen im Erzbistum sonderpädagogisch unterstützt werden. So soll den Schulen die Aufnahme von Kindern mit Lernschwierigkeiten erleichtert werden. Doch für Kinder mit schwereren Behinderungen sieht Richter auf den Regelschulen kaum eine Möglichkeit:
"Eigentlich müsste ich dann ja hingehen in solchen Klassen und ständig den zweiten Lehrer dabei haben. Das können wir jetzt auch unter den finanziellen Vorgaben nicht leisten. Wenn der Staat sagt, das ist das Modell, dann muss ich aber auch die Konsequenz ziehen und sagen, ich mache höchstens 15er Gruppen."
In den einzelnen Bundesländern verläuft die Umstellung auf eine inklusive Schule in ganz unterschiedlichem Tempo. Während die Eltern mancherorts nicht einmal frei zwischen Förderschule und gemeinsamem Unterricht wählen können, sollen zum Beispiel in Bremen schon in den nächsten sechs Jahren die meisten Förderschulen geschlossen und die Kinder in Regelschulen untergebracht werden.
Auch die finanziellen Voraussetzungen unterscheiden sich stark. In Thüringen zahlt das Kultusministerium einer integrativ arbeitenden nicht-staatlichen Schule pro Kind mit Förderbedarf den gleichen erhöhten Satz wie einer Förderschule und ermöglicht damit auch zusätzlich Sonderpädagogen einzustellen. Dagegen werden die freien Schulen in Berlin mit einer Pauschale unterstützt, die sich alleine nach der Zahl der Schüler richtet, und nicht danach, ob ein Teil von ihnen besondere Förderung braucht.
Zynisch formuliert: In Berlin benachteiligt sich eine Schule selbst, wenn sie Kinder aufnimmt, die mehr Aufmerksamkeit erfordern. Jürgen Frank, Leiter der Abteilung Bildung in der EKD:
"Bei aller ideellen Zustimmung muss man damit rechnen, dass sich Widerstand formiert: auf der Ebene der Eltern, auf der Ebene der Lehrer. Alle aus ihrer Perspektive gut begründet. Und man kann nur erfolgreich sein in diesem Feld, wenn man den Anspruch und den Gewinn für alle deutlich macht. Bisher sehen die meisten aber nur Nachteile."
Eltern von behinderten Kindern wollen verhindern, dass diese auf einer Regelschule einfach untergehen. Eltern von nicht-behinderten Kindern fürchten, dass die Leistungen im gemeinsamen Unterricht abnehmen könnten. Tatsächlich kennt Frank Beispiele von Schulen, die mit zahlreichen Abmeldungen zu kämpfen hatten, als sie behinderte Schüler aufnehmen wollten. Und auch die Lehrer werden im Studium kaum auf den gemeinsamen Unterricht vorbereitet: Sie werden entweder als Fachlehrer oder als Sonderpädagogen ausgebildet. Eine Verknüpfung der Kompetenzen ist nicht vorgesehen. Jürgen Frank:
"Es ist natürlich für eine Lehrerin und einen Lehrer an einer Förderschule eine vergleichsweise günstige Situation, mit einer vergleichsweise homogenen Gruppe zu arbeiten. Die Gruppengröße ist von vornherein sehr klein gehalten, das ist ein anderes Unterrichten als im normalen Klassenverband."
Bundesweit sind über elf Prozent der Förderschulen in konfessioneller Trägerschaft - ein überdurchschnittlich hoher Anteil im Vergleich zu den Regelschulen. Die Behindertenfürsorge ist traditionell Sache der Kirchen. Doch nach Jahrzehnten der Betreuung in gesonderten Einrichtungen fordert die UN-Behindertenrechtskonvention nun den Weg zurück in die Gesellschaft, um Menschen mit Behinderungen aus dem Abseits zu holen. Das muss aber nicht bedeuten, dass alle Förderschulen schließen müssen, wie das Beispiel der evangelischen Waldhofschule im brandenburgischen Templin zeigt. Vor knapp acht Jahren öffnete sich die ehemalige Förderschule auch für nicht-behinderte Kinder. Schulleiterin Antje Uibel:
"Sinnvoll finde ich es, aus einer Förderschule eine Schule für alle zu machen, weil einfach dieses Knowhow bei den Sonderpädagogen da ist, was Grundvoraussetzung ist, im Dialog mit den Grundschullehrern. Die Sonderpädagogen arbeiten ganz viel in Projekten, die haben den ganzheitlichen Blick auf das Kind und das ist Voraussetzung."
In jeder Klasse sitzen 18 Schüler, je zur Hälfte mit und ohne Förderbedarf, und werden von zwei Pädagogen betreut. Ein neues Thema wird im Frontalunterricht eingeführt und dann selbstständig oder in Gruppenarbeit vertieft.
"Der Förderbedarf ist bei uns eigentlich nicht das Entscheidende. Wir müssen sehen, was das Kind leisten kann, wo das Kind die Stärken hat und die Schwächen nicht aus den Augen verlieren, so werden die Gruppen gebildet."
Matheunterricht in der Klasse 2a. Die Schüler arbeiten in kleinen Gruppen. Alle beschäftigen sich mit Geometrie, an jedem Tisch auf einem anderen Niveau. Drei Schüler ordnen Alltagsgegenstände den geometrischen Formen zu, die ähnlich geformt sind. Am Nebentisch baut eine Gruppe mit Holzklötzen kleine Konstruktionen nach, die sie auf Bildern findet. Ein Mädchen leitet ihre Mitschüler an:
"Ist das richtig oder falsch? Falsch. Nein, richtig. Jetzt sehe ich es. Der gesuchte Körper hat eine Kante und eine Spitze, die Grundfläche ist ein Kreis."
Richtig kompliziert wird es am dritten Tisch: Drei Jungen versuchen, nur anhand einer Beschreibung die richtige geometrische Form zu finden. Als die Stunde vorbei ist, wollen die Schüler noch nicht aufhören.
"Ich möchte eigentlich weitermachen, das hat so’nen Spaß gemacht. Lehrerin: Kinder, das habe ich gemerkt. Mir ging’s genauso. Mir auch, mir auch…"
Doch wie lässt sich verhindern, dass bei so großen Unterschieden nicht doch die schwächeren Schüler abgehängt werden? In den Klassen werde von Anfang an darauf geachtet, dass kein Schüler aus der Gemeinschaft herausfalle, sagt Schulleiterin Uibel. Das koste Zeit, doch die müsse man sich eben nehmen.
"Ein gutes Kollegium ist ganz wichtig, aber viel wichtiger ist der individuelle Blick aufs Kind, das Wertschätzen, das Anerkennen, das Herausfinden der Stärken und zu sagen, ok, das ist das, was das Kind besonders gut kann. Das ist vielleicht viel, viel wichtiger als besonders gute Materialien. Wirklich zu gucken, was kann der eine wirklich gut."
Auf den einzelnen Schüler und seine Fähigkeiten einzugehen und zugleich die sehr unterschiedlichen Schüler in einer Gemeinschaft zusammen zu bringen – an dieser Schule scheint das zu gelingen. Im vergangenen Jahr erhielt die Waldhofschule den Deutschen Schulpreis. Ihr Konzept, aus einer Schule für geistig Behinderte eine Schule für alle zu entwickeln, könnte ein Modell werden, auch für andere Förderschulen.
"Ich habe einen Englisch-Baustein gerade abgeschlossen und gucke noch mal nach, ob ich alles richtig gemacht habe, damit ich es dann abgeben kann."
"Ich mache einen Mathe-Baustein der heißt Zuordnung, bearbeite den gerade, habe vor ein paar Tagen damit angefangen."
Ein Lernbaustein, das ist eine Karteikarte, auf der mehrere Aufgaben zu einem Thema gestellt werden. Jeder Schüler erarbeitet sich selbst Schritt für Schritt sein Wissen. Der Frontalunterricht ist fast vollständig abgeschafft. Wer nicht weiterkommt, holt sich Hilfe bei seinen Mitschülern, oder zur Not bei einem Lehrer, erklärt Juri:
"Wir haben jetzt gerade keine Mathelehrerin hier. Aber wir haben die Fachlehrer in den Nebenräumen in den anderen Klassen, wenn ich eine Frage habe, kann ich in ein anderes Lernbüro gehen, weil da heute eine Mathelehrerin ist und die kann mir das dann erklären."
Alle Schüler der Jahrgangsstufen 7 bis 9 lernen gemeinsam in einer Klasse. Egal ob Gymnasial- oder Hauptschulempfehlung, es wird nicht nach Leistung getrennt. Davon profitieren alle.
"In Mathe bin ich schneller als die anderen, schätze ich jetzt mal, und da bietet mir das Lernbüro vor allem in Mathe auch sehr viele Freiheiten, weil ich da eben schnell arbeiten kann und nicht daran gehindert werde."
An normalen Schulen gehen Hochbegabte wie der 13-jährige Bennet häufig unter. An der Gemeinschaftsschule Berlin Zentrum lernen sie gemeinsam mit Kindern die Lernschwierigkeiten, eine Hör- oder Sehschwäche oder psychosoziale Probleme haben. Jeder wird in seinen besonderen Bedürfnissen berücksichtigt. Viele Schüler sind auf anderen Schulen gescheitert, und haben erst an der Gemeinschaftsschule wieder die Lust am Lernen gefunden. Martha hatte immer Schwierigkeiten in Deutsch.
"Hier habe ich gemerkt, abgesehen von Rechtschreibung ist das eigentlich mein Lieblingsfach. Dann kann man auch mit Schwächen gut arbeiten, dann sagen die, ok, dann arbeiten wir daran, aber das heißt nicht, dass du verhindert bist, in dem Fach woanders gut zu leisten."
Jeder zählt! Jeder ist einzigartig! Das sei das Motto, sagt Margret Rasfeld, die Leiterin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Als Geschöpf Gottes habe jedes Kind das Recht, als eigenständige Persönlichkeit geachtet zu werden.
"Also die Kinder mit Förderschwerpunkt Lernen, die fallen eigentlich überhaupt nicht auf. Ich glaube, die meisten wissen gar nicht, wer hier ein ausgewiesenes Handikap hat. Die wissen, der hat Schwierigkeiten in Mathe, aber ob der da jetzt einen ausgewiesenen Förderschwerpunkt hat oder ob der eine Dyskalkulie hat, das interessiert die auch nicht."
In Deutschland lernen mehr als 400.000 Schülerinnen und Schüler in Sonderschulen - das sind 85 Prozent der Kinder mit Förderbedarf. Der europäische Durchschnitt liegt bei nur 15 Prozent. Förderschulen sollen die besonderen Schwierigkeiten der Schüler ausgleichen, doch mit wenig Erfolg: Dem Bildungsforscher Klaus Klemm zufolge verlassen über 77 Prozent der Förderschüler die Schule ohne einen Abschluss.
In Deutschland spezialisieren sich Schulen auf zehn Förderschwerpunkte, darunter solche wie Hören oder Sprache, körperliche oder geistige Entwicklung. Einmalig in Europa sind die Sonderschulen für Lernbehinderte. Hierzulande hat fast die Hälfte aller Kinder mit Förderbedarf die Diagnose Lernschwierigkeiten. Inklusion bedeutet daher neben Barrierefreiheit für körperlich Behinderte vor allem, neue pädagogische Konzepte für den gemeinsamen Unterricht zu schaffen. Rasfeld kritisiert das deutsche System der Sortierung:
"Der Grundschullehrer muss schauen, ist der gut genug fürs Gymnasium. Und dann da wieder. Bleibt der sitzen oder nicht. Immer muss man schauen, ist der Schüler gut genug. Der Schüler muss sich ans System anpassen. Und das ist genau die gegenteilige Haltung zu einer Potenziale-Entfaltungskultur. Wo wir ja hinkommen müssen, weil sich auch unsere ganze Gesellschaft wandelt in die Potenzial-Entfaltung. Wir brauchen nicht mehr die Pflichterfüller und die Leute, die angepasst sind und da ihre Arbeitsblätter ausfüllen. Wir brauchen Menschen mit Mut, mit Charakterstärke."
Rasfeld möchte ihre Schule zu einer Inklusiven Schule machen, die ohne Einschränkungen alle Schüler aufnehmen kann, wie es auch die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht. Das bedeutet: Kinder mit besonderem Förderbedarf sind von vornherein dabei, statt erst "integriert" zu werden. Um das finanzieren zu können, müssen an ihrer Schule alle mit anpacken und zum Beispiel auch selbst putzen: Die Lehrer ihre Räume, die Schüler ihre Klassenzimmer und die Eltern die Flure und Toiletten. Von dem Geld, das dadurch eingespart wird, kann die Schule zwei Sonderpädagogen beschäftigen.
"Die Grenzen sind für mich da, wie viele Sonderschullehrer-Stunden ich hab, also wie oft ich Doppelbesetzung machen kann oder Kinder mal zeitweise raus nehmen, die noch irgendwo mehr Förderung brauchen."
Bislang arbeiten bundesweit schätzungsweise zehn Prozent der katholischen Schulen integrativ. Mehr als die Hälfte der evangelischen Schulen unterrichtet vereinzelt Kinder mit Förderbedarf. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland forderte im November, Kinder mit Förderbedarf stärker gemeinsam mit anderen zu unterrichten.
Der Appell richtete sich sowohl an die Politik als auch an die Träger evangelischer Schulen. Auch die Deutsche Bischofskonferenz will im Laufe des Jahres Empfehlungen zur Inklusion herausgeben. Doch es gibt auch Bedenken:
"Ich bin sehr skeptisch, ob in jedem Fall der bessere Schüler den Schlechteren mitreißt. Ich muss genau die andere Bewegung sehen, denn auch das stellen wir fest, auch der schwächere Schüler demotiviert mal den besseren Schüler. Also ich wehre mich eigentlich gegen jede Ideologisierung, ich möchte das Kind sehen und möchte dann gucken, wie gehe ich mit diesem Menschen in seiner Individualität um. Und ich glaube, da gibt es nicht den einen Weg."
Hans-Peter Richter leitet das Schuldezernat im Erzbistum Berlin. Die dortige Förderschule St. Hildegard wurde zu einem Förderzentrum ausgebaut, von dem aus die 18 katholischen Regelschulen im Erzbistum sonderpädagogisch unterstützt werden. So soll den Schulen die Aufnahme von Kindern mit Lernschwierigkeiten erleichtert werden. Doch für Kinder mit schwereren Behinderungen sieht Richter auf den Regelschulen kaum eine Möglichkeit:
"Eigentlich müsste ich dann ja hingehen in solchen Klassen und ständig den zweiten Lehrer dabei haben. Das können wir jetzt auch unter den finanziellen Vorgaben nicht leisten. Wenn der Staat sagt, das ist das Modell, dann muss ich aber auch die Konsequenz ziehen und sagen, ich mache höchstens 15er Gruppen."
In den einzelnen Bundesländern verläuft die Umstellung auf eine inklusive Schule in ganz unterschiedlichem Tempo. Während die Eltern mancherorts nicht einmal frei zwischen Förderschule und gemeinsamem Unterricht wählen können, sollen zum Beispiel in Bremen schon in den nächsten sechs Jahren die meisten Förderschulen geschlossen und die Kinder in Regelschulen untergebracht werden.
Auch die finanziellen Voraussetzungen unterscheiden sich stark. In Thüringen zahlt das Kultusministerium einer integrativ arbeitenden nicht-staatlichen Schule pro Kind mit Förderbedarf den gleichen erhöhten Satz wie einer Förderschule und ermöglicht damit auch zusätzlich Sonderpädagogen einzustellen. Dagegen werden die freien Schulen in Berlin mit einer Pauschale unterstützt, die sich alleine nach der Zahl der Schüler richtet, und nicht danach, ob ein Teil von ihnen besondere Förderung braucht.
Zynisch formuliert: In Berlin benachteiligt sich eine Schule selbst, wenn sie Kinder aufnimmt, die mehr Aufmerksamkeit erfordern. Jürgen Frank, Leiter der Abteilung Bildung in der EKD:
"Bei aller ideellen Zustimmung muss man damit rechnen, dass sich Widerstand formiert: auf der Ebene der Eltern, auf der Ebene der Lehrer. Alle aus ihrer Perspektive gut begründet. Und man kann nur erfolgreich sein in diesem Feld, wenn man den Anspruch und den Gewinn für alle deutlich macht. Bisher sehen die meisten aber nur Nachteile."
Eltern von behinderten Kindern wollen verhindern, dass diese auf einer Regelschule einfach untergehen. Eltern von nicht-behinderten Kindern fürchten, dass die Leistungen im gemeinsamen Unterricht abnehmen könnten. Tatsächlich kennt Frank Beispiele von Schulen, die mit zahlreichen Abmeldungen zu kämpfen hatten, als sie behinderte Schüler aufnehmen wollten. Und auch die Lehrer werden im Studium kaum auf den gemeinsamen Unterricht vorbereitet: Sie werden entweder als Fachlehrer oder als Sonderpädagogen ausgebildet. Eine Verknüpfung der Kompetenzen ist nicht vorgesehen. Jürgen Frank:
"Es ist natürlich für eine Lehrerin und einen Lehrer an einer Förderschule eine vergleichsweise günstige Situation, mit einer vergleichsweise homogenen Gruppe zu arbeiten. Die Gruppengröße ist von vornherein sehr klein gehalten, das ist ein anderes Unterrichten als im normalen Klassenverband."
Bundesweit sind über elf Prozent der Förderschulen in konfessioneller Trägerschaft - ein überdurchschnittlich hoher Anteil im Vergleich zu den Regelschulen. Die Behindertenfürsorge ist traditionell Sache der Kirchen. Doch nach Jahrzehnten der Betreuung in gesonderten Einrichtungen fordert die UN-Behindertenrechtskonvention nun den Weg zurück in die Gesellschaft, um Menschen mit Behinderungen aus dem Abseits zu holen. Das muss aber nicht bedeuten, dass alle Förderschulen schließen müssen, wie das Beispiel der evangelischen Waldhofschule im brandenburgischen Templin zeigt. Vor knapp acht Jahren öffnete sich die ehemalige Förderschule auch für nicht-behinderte Kinder. Schulleiterin Antje Uibel:
"Sinnvoll finde ich es, aus einer Förderschule eine Schule für alle zu machen, weil einfach dieses Knowhow bei den Sonderpädagogen da ist, was Grundvoraussetzung ist, im Dialog mit den Grundschullehrern. Die Sonderpädagogen arbeiten ganz viel in Projekten, die haben den ganzheitlichen Blick auf das Kind und das ist Voraussetzung."
In jeder Klasse sitzen 18 Schüler, je zur Hälfte mit und ohne Förderbedarf, und werden von zwei Pädagogen betreut. Ein neues Thema wird im Frontalunterricht eingeführt und dann selbstständig oder in Gruppenarbeit vertieft.
"Der Förderbedarf ist bei uns eigentlich nicht das Entscheidende. Wir müssen sehen, was das Kind leisten kann, wo das Kind die Stärken hat und die Schwächen nicht aus den Augen verlieren, so werden die Gruppen gebildet."
Matheunterricht in der Klasse 2a. Die Schüler arbeiten in kleinen Gruppen. Alle beschäftigen sich mit Geometrie, an jedem Tisch auf einem anderen Niveau. Drei Schüler ordnen Alltagsgegenstände den geometrischen Formen zu, die ähnlich geformt sind. Am Nebentisch baut eine Gruppe mit Holzklötzen kleine Konstruktionen nach, die sie auf Bildern findet. Ein Mädchen leitet ihre Mitschüler an:
"Ist das richtig oder falsch? Falsch. Nein, richtig. Jetzt sehe ich es. Der gesuchte Körper hat eine Kante und eine Spitze, die Grundfläche ist ein Kreis."
Richtig kompliziert wird es am dritten Tisch: Drei Jungen versuchen, nur anhand einer Beschreibung die richtige geometrische Form zu finden. Als die Stunde vorbei ist, wollen die Schüler noch nicht aufhören.
"Ich möchte eigentlich weitermachen, das hat so’nen Spaß gemacht. Lehrerin: Kinder, das habe ich gemerkt. Mir ging’s genauso. Mir auch, mir auch…"
Doch wie lässt sich verhindern, dass bei so großen Unterschieden nicht doch die schwächeren Schüler abgehängt werden? In den Klassen werde von Anfang an darauf geachtet, dass kein Schüler aus der Gemeinschaft herausfalle, sagt Schulleiterin Uibel. Das koste Zeit, doch die müsse man sich eben nehmen.
"Ein gutes Kollegium ist ganz wichtig, aber viel wichtiger ist der individuelle Blick aufs Kind, das Wertschätzen, das Anerkennen, das Herausfinden der Stärken und zu sagen, ok, das ist das, was das Kind besonders gut kann. Das ist vielleicht viel, viel wichtiger als besonders gute Materialien. Wirklich zu gucken, was kann der eine wirklich gut."
Auf den einzelnen Schüler und seine Fähigkeiten einzugehen und zugleich die sehr unterschiedlichen Schüler in einer Gemeinschaft zusammen zu bringen – an dieser Schule scheint das zu gelingen. Im vergangenen Jahr erhielt die Waldhofschule den Deutschen Schulpreis. Ihr Konzept, aus einer Schule für geistig Behinderte eine Schule für alle zu entwickeln, könnte ein Modell werden, auch für andere Förderschulen.